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Berliner Morgenpost: Mehr Ehrlichkeit und weniger Empörung, bitte! - Leitartikel

Berlin (ots)

Der ideale Staatsbürger arbeitet fleißig und
verdient gerade genug, um ein Auto zu kaufen, seine beiden Kinder 
großzuziehen, sich um die Eltern zu kümmern, ein wenig für die Rente 
zu sparen - und er zahlt natürlich Steuern und Sozialausgaben in den 
großen Topf. Die deutsche Gesellschaft basiert seit Generationen auf 
der praktischen Solidarität Millionen tapferer Mittelschichtmenschen.
Wer sich der Steuerpflicht entzieht, verabschiedet sich von diesem 
Konsens ebenso wie derjenige, der sich seinen Lebensunterhalt 
bezahlen lässt, obwohl er selbst für sich sorgen könnte. Am oberen 
Ende der sozialen Leiter stehen Menschen, die Steuern für Diebstahl 
halten und nicht einsehen, dass mit ihrem schönen Geld die 
Nichtsnutze durchgefüttert werden. Und unten harren manche aus, die 
aus systematischer Steuerhinterziehung ein Recht ableiten, selbst 
auch nichts Nennenswertes zum Gemeinwesen beisteuern zu müssen.
Steuerbetrüger wie Sozialhilfe-Mitnehmer haben eines gemeinsam: Beide
sehen sich als Opfer eines kaltherzigen Staats - und beide 
legitimieren ihre Illoyalität mit dem Verweis auf die da unten, 
wahlweise die da oben. Das Gemeinwesen wird nicht von einer Gruppe 
allein bedroht, sondern von beiden gleichzeitig. In Tateinheit setzen
Steuerflüchtlinge und Sozialhilfe-Profis die Staatskasse und damit 
alle Normalverdiener unter Druck.
Das bisweilen ins Hysterische kippende Geschrei über Schweizer Konten
und Hartz-IV-Abgreifer illustriert die bedenkliche Erosion des 
deutschen Erfolgsmodells. Die Mittelschicht schrumpft, immer weniger 
halbwegs staatsloyale Bürger sehen sich einer wachsenden Schar 
gefühlter Opfer gegenüber. Und die Erosion schreitet weiter fort. 
Kleinverdiener stellen sich die ökonomisch vernünftige Frage, warum 
sie sechs Tage die Woche frühmorgens aufstehen und zwölf Stunden 
rackern sollen - Besserverdienende fühlen sich wie Trottel, weil sie 
immer noch kein Steuersparkonto in den Alpen installiert haben, das 
sich im Skiurlaub rasch checken lässt.
Es gehört zu den Standardparolen jedes Stammtischs, dass in 
Deutschland eine unselige Gerechtigkeits- und Gleichheitsdebatte 
geführt werde. Das Gegenteil ist der Fall. Das Gefühl, Leistung werde
gerecht belohnt und vor dem Finanzamt herrsche Gleichheit, ist 
unabdingbare Voraussetzung für staatsbürgerliche Loyalität. Mit etwas
mehr Ehrlichkeit statt routinierter Empörung könnten Guido 
Westerwelle und Frank Bsirske in einen gemeinsamen Kampf ziehen: Es 
geht nicht um Reiche oder Arme, sondern um Kriminelle, die ihren 
Möglichkeiten entsprechend die Staatskasse schädigen. Das Ausspielen 
von gesellschaftlichen Gruppen bringt die Debatte nicht voran, 
sondern vergiftet das Klima. Fakt ist: Ehrliche Großverdiener mit 
ihren satten Abgaben sind für dieses Land ebenso wichtig wie die 
Gewissheit, dass die Gemeinschaft einem in Not Geratenen hilft. Wenn 
die gemeinsamen Werte wieder mal justiert würden, bekäme die 
Aufgeregtheit endlich Sinn und Richtung.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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