BERLINER MORGENPOST: Auf Augenhöhe mit Klaus Wowereit - Leitartikel
Berlin (ots)
Es kann auch wieder abwärts gehen. Wer sehen will, wie wankelmütig die Liebe des Volkes zu einer politischen Kraft ist, muss sich nur den beispiellosen Absturz der FDP auf nur noch fünf Prozent anschauen. Gerade die Berliner Grünen haben Erfahrung, wie es sich anfühlt, Umfrage-Weltmeister zu sein, aber im entscheidenden Spiel am Wahltag zu versagen. Deswegen tun die Grünen gut daran, den Ball flach zu halten und Euphorie zu vermeiden. Es sind schließlich noch fünfzehn Monate hin bis zu den nächsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Aber die Umfragen in diesem Frühsommer verheißen bis dahin ein aufregendes Jahr. Fast alles scheint möglich nach dem 4. September 2011, an dem die Bürger voraussichtlich an die Urnen treten werden. Die zentrale Frage wird sein, ob die Grünen tatsächlich mit ihrer Spitzenfrau Renate Künast den Angriff wagen. Die frühere Bundesministerin aus dem Bundestag abzuziehen und an ihrer Berliner Heimatfront gegen einen nach zehn Jahren im Amt nicht mehr taufrischen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit antreten zu lassen, birgt nach derzeitiger Lage eine reelle Chance in sich, erstmals in einem deutschen Bundesland eine grüne Ministerpräsidentin zu installieren. Künast könnte nach dem hessischen Turnschuhminister Joschka Fischer deutsche Geschichte schreiben. Noch hat die Fraktionschefin im Bundestag ein paar Monate Zeit, um zu sehen, wie sich die Stimmung entwickelt in ihrer Heimatstadt. Und ob sich Schwarz-Gelb auf der Bundesebene soweit stabilisiert, dass mit einem vorzeitigen Scheitern ihrer Koalition auf Bundesebene eben doch nicht zu rechnen ist. Dann könnte der historische Sturm auf Berlin durchaus seinen Reiz haben gegenüber dem Business as usual in der Opposition. Klaus Wowereit hätte mit der Ex-Ministerin, die Berlin aus dem Effeff kennt, in seinem dritten Wahlkampf erstmals eine Herausfordererin auf Augenhöhe. Die anderen Parteien bangen völlig zu Recht, ein zugespitztes Duell zwischen Künast und Wowereit ums Rote Rathaus könnte auf der politischen Bühne keinen Platz mehr für sie lassen. Die Zeit arbeitet für die Grünen. Die Gebildeten, die nach Berlin ziehen und weite Teile der Stadt prägen, wählen sie überproportional stark, ebenso die Jungen. Das linksbürgerliche, ökologisch gesinnte Milieu, in dem die Grünen Volkspartei sind, wächst. Deswegen ist es nicht vermessen, für die früheren Alternativen auf Sieg zu setzen. Wenn es gelingt, unter den Anhängern der Union und der FDP den Eindruck zu vermitteln, es gebe nur mit Grün-Rot oder Grün-Schwarz eine reelle Chance, die politische Hegemonie der SPD und der Linken in Berlin nach zehn Jahren zu beenden, wird es spannend.
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