BERLINER MORGENPOST: Über die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg
Berlin (ots)
In Berlin üben die Kirchen nicht gerade großen Einfluss auf Leben und Denken der meisten Bewohner aus. Das gilt besonders für die im Nordosten Deutschlands von jeher in der Diaspora lebenden Katholiken. Von der Machtfülle und dem Prunk, wie sie Fürstbischöfe wie in Köln oder Augsburg entfalten, kann die annähernd bankrotte Erzdiözöse Berlin nur träumen. Der tägliche Überlebenskampf der Kirche und ihrer Orden in einer religionsfernen Umgebung hat sicherlich dazu geführt, dass ausgerechnet in Berlin mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Canisius-Kolleg eine reinigende Welle ihren Ausgang nahm. Diese hat inzwischen nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die Protestanten und Reformpädagogen gezwungen, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, dass sie ihre eigenen Werte verraten und das Vertrauen der ihnen anvertrauten Kinder missbraucht haben. Ein halbes Jahr ist es her, seit diese Zeitung als erstes Medium den Brief des Rektors an ehemalige Schüler öffentlich machte, mit dem Pater Mertes den massenhaften und systematischen Missbrauch von Schülern durch zwei Patres vor rund 30 Jahren eingestand. Im aufgeklärten Jesuitenorden und im wenig katholischen Berlin war der Druck wohl vergleichsweise gering, diese bis dahin nur gerüchteweise bekannten Übergriffe weiter unter dem Teppich zu halten, wo die Ordensoberen sie seit 30 Jahren hingefegt hatten. Der Schock war enorm. Das Thema Missbrauch, von bürgerlichen Schichten bis dahin meist in Kinderheime, Schmuddelkneipen oder Prekariatsfamilien verortet, hatte die Spitze der Gesellschaft erreicht. Wenn so etwas in einer Eliteschule geschehen konnte, dann musste jetzt endgültig Schluss sein mit dem Wegsehen und dem Verharmlosen. Was die Jesuiten und das Canisius-Kolleg getan haben, war zunächst vorbildlich. Bei der Aufklärung der Übergriffe und der Feststellung des eigenen Versagens muss sich der Orden nichts vorwerfen lassen. Beim Umgang mit den Opfern aber schon. Es ist dringend geboten, den Missbrauchten von einst finanzielle Genugtuung anzubieten, die deutlich über den symbolischen warmen Händedruck hinausreicht. Der Orden trägt direkte Verantwortung für verpfuschte Leben, für psychische Lasten und Beziehungsprobleme, die verstörende Missbrauchserfahrungen ausgelöst haben. Der Orden und die Kirche als hierarchisch organisierte Instanzen mit hohem moralischem Anspruch sind viel eher verpflichtet als etwa Ehrenamtliche in Sportvereinen, Opfer von Missbrauch zu entschädigen. Es wäre angemessen, wenn diejenigen, die die Welle ausgelöst haben, sie durch ein Eingehen auf die Opfer wieder eindämmen würden. Das kostet Geld. Aber Zögern oder Knausern kostet Glaubwürdigkeit. Und nichts braucht Kirche dringender. Zumal im religionsfernen Berlin.
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