BERLINER MORGENPOST: Nur ein Ausstieg im Konsens hat eine Chance - Leitartikel
Berlin (ots)
Deutschland einig Kernkraftgegner-Land. Was Rot-Grün schon lange wollte, will nun auch Schwarz-Gelb. Der GAU von Fukushima hat es möglich gemacht. Spätestens 2022 soll der letzte atomare Strom bei uns abgeschaltet werden. Über die Sinnhaftigkeit länger zu streiten, ist müßig angesichts einer Stimmungslage im Lande, die erst durch Pleiten, Pech und Pannen in einigen heimischen Kernkraftwerken erneut befeuert und schließlich zum Überkochen gebracht wurde, als über Japan - durch Naturgewalten und technologische Schlamperei - hereinbrach, was doch eigentlich als unvorstellbar galt. CDU, CSU und FDP blieb nichts anderes übrig, als aus später Einsicht, gepaart mit taktischem Kalkül, Abschied zu nehmen vom Glauben an die Atomtechnologie als Brückentechnologie bis zur Erfindung einer risikofreien Alternative, wenn sie denn über 2013 hinaus auch nur den Hauch einer Chance zum Weiterregieren wahren wollten. Es musste also ein Ausstiegsbeschluss her. Einer, dem auch die Opposition grundsätzlich zustimmen kann. Nur dann darf die Koalition hoffen, ihr Verlierer-Thema Atomstrom noch rechtzeitig zu entschärfen. Das ist ihr mit der nächtlichen Entscheidung weitgehend gelungen. Angela Merkel, Horst Seehofer und Philipp Rösler haben sich dem rot-grünen Ausstiegsbeschluss von 2001 so weit genähert, dass sich SPD und Grünen schwerlich einem Kompromiss werden verweigern können. Es sei denn, sie stellen parteipolitische Taktik über die eigene Glaubwürdigkeit. Vor Fragen der Glaubwürdigkeit stehen auch die großen Energieversorger. Die haben einst mit Schröder und Trittin schon einen Ausstieg einvernehmlich vereinbart. Folglich können sie heute schwerlich überzeugend behaupten, ohne Atomstrom gingen die Lichter aus. Der Ausstiegsbeschluss selbst ist nur der erste Schritt zu einer Verständigung im Konsens, die die Gesellschaft nicht länger spaltet. Zur eigentlichen Herausforderung wird das Umsteuern auf alternative Energiequellen als verlässlicher Ersatz für die atomaren. Für diesen Kraftakt muss die Koalition noch viele Details nachliefern. Und die Opposition als treibende Ausstiegskraft Mitverantwortung tragen. Sie darf vor den partikularen Interessen von Verbänden, Bürgerinitiativen oder Wirtschaftsbranchen nicht einknicken. Die große Mehrheit in unserer Gesellschaft ist zwar gegen Atomstrom. Sie neigt allerdings dazu, die Folgen des Abschaltens allenfalls widerwillig zu tragen. Aber auch hier gilt: Wer "A" wie Abschalten sagt, muss auch "B" wie Bedarfsdeckung sagen. Vermehrung von Windkraftanlagen, Trassierung neuer Hochspannungsleitungen, der Bau umweltfreundlicher Gas- und Kohlekraftwerke oder die Suche nach alternativen Endlagern für den Atommüll sind unausweichliche Konsequenz des Ausstiegs. Wer sich dem entgegenstemmt, darf nicht länger politische Fürsprache erfahren. Denn Eile tut Not, soll in zehn Jahren erfolgreich umgesteuert werden. Der Umbau zu einem kernenergiefreien Deutschland hat ein Restrisiko. Aber im zweiten Anlauf muss er gelingen. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr. Trost für alle Kritiker, dass die fundamentale Wende auch Chancen eröffnet. Gelingt sie, setzt Deutschland ein weltweites Exempel für seine Kraft zur Erneuerung.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell