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BERLINER MORGENPOST: Ein bescheidener, ein gelassener Präsident - Leitartikel

Berlin (ots)

Mal angenommen, Joachim Gauck hätte die vergangenen zwölf Monate als Staatsoberhaupt gedient. Wohl im Wochentakt hätten wir Mahnendes vernehmen dürfen: zu Fukushima, EHEC, Stuttgart 21, Gewalt in der U- sowie Unpünktlichkeit der S-Bahn. Es hätte eine weitere Fachkraft für das stets richtige Wort gewirkt, neben Geißler, Käßmann und den Grünen, die in hochkomplexem Gemenge bei einer nach Einfachheit dürstenden Öffentlichkeit Moralpunkte sammeln, auch weil sie nicht handeln müssen. Christian Wulff hat der Versuchung widerstanden, schnelle, billige Zustimmung einzuheimsen. Eine Antrittsansprache, die die bunte Republik anmahnte, eine große Rede zum 3. Oktober, die seine - völlig richtigen - Vorstellungen von Integration darlegte - das war's. Es ist zu früh, Wulffs Leistungen zu beurteilen. Aber eine hat er bereits vollbracht: Ruhe bewahrt. Bevorzugt absolvierte er vor allem Auftritte, die weniger medial als inhaltlich motiviert waren, etwa 35 Prozent mehr als sein sensibler Vorgänger. Zusammenhalt, Zukunft der Demokratie, Anerkennungskultur - das sind die Themen des Präsidenten und für die Zukunft des Landes allemal wichtiger als Steuersenkungsgedankenspiele. Als erstes Staatsoberhaupt trifft sich der Niedersachse mit den Ausschüssen des Bundestags, weil ihm die Aushöhlung des Parlaments Sorge bereitet. Er spricht mit Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher und überlässt bei der Berliner Rede dem polnischen Präsidenten Komorowski die Bühne. Wulff ist bestimmt nicht kamerascheu, umso herausfordernder mag seine Zurückhaltung sein. Nach dem eitlen Wettbewerb seiner Vorgänger, wer wohl die historisch bedeutendere Rede halte, ist Wulff ein angenehm stiller Präsident, nicht un- aber überpolitisch, provozierend immun gegen die alltägliche Hysterie um wenig bis nichts. Einfach mal die Klappe halten, das ist die subversivste Haltung, die sich ein Öffentlichkeitsmensch heutzutage leisten kann. Und die Deutschen schätzen diesen Stil. Über 80 Prozent sind zufrieden mit dem Neuen im Bellevue. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht, als die Kanzlerin scheinbar einen Verlegenheitskandidaten präsentierte. Wulffs größte Tugend ist wohl seine Beharrlichkeit, gewachsen in drei Schlappen im Rennen um das Amt des Ministerpräsidenten. Gelassen erträgt er die erwartbare Aufregung über eine Selbstverständlichkeit wie "Der Islam gehört zu Deutschland". Gelassen lässt er den vielen empörten Briefeschreibern, die seine Rede nicht gehört, sondern nur einen Halbsatz gelesen hatten, die Rede in Gänze zuschicken. Gelassen wagte er einige Wochen später bei seinem Besuch in Ankara den ungleich mutigeren Satz, dass das Christentum zur Türkei gehöre - aber das ging natürlich unter. Nicht polarisieren, sondern Gemeinsamkeiten entdecken zu wollen - Wulff mutet sich das Abenteuer des ganz Normalen zu und hält seine Weihnachtsansprache im Kreise von 200 Freiwilligen. Ist der Bescheidenheitsgestus echt oder aufgesetzt? In der "Sansibar" auf Sylt immerhin verließ Wulff artig den Tisch, als der Wirt der Promi-Schwemme ihn darauf hinwies, dass hier demnächst reserviert sei. Viele andere hätten eine Welle gemacht. Deutschland hatte schon Präsidenten, die lauter, aber schwächer gestartet sind.

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