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BERLINER MORGENPOST: Lernwillig, aber nicht immer schulfähig - Leitartikel

Berlin (ots)

Wenn die Anmeldungen kommen, zählen die Lehrerinnen der Anfängerklassen: Wie viele Kinder werden erst im November oder Dezember sechs? Damit bekommen sie schon mal einen ersten Überblick, wie laut es in ihrem Klassenraum wohl werden wird. Faustregel: Je mehr sehr junge Kinder in der Klasse, desto höher der Lärmpegel. Fünfjährige wollen lernen, sie sind wissbegierig und aufgeschlossen, und es gibt keinen Grund, diese Lernbereitschaft nicht zu nutzen. Aber längst nicht alle sind schulfähig. Jedenfalls dann nicht, wenn Schule so ist, wie viele Erstklässler sie kennenlernen: mit 28 Kindern in einem kleinen Klassenraum, einem Stundenplan, der oft genug von Raumnot und Lehrermangel diktiert wird. Und mit einer Lehrerin, die sich in den ersten Monaten darauf konzentrieren muss, alle neuen Schüler so weit zu bringen, dass sie sich die Schuhe anziehen können und wissen, dass man im Unterricht nicht einfach rausgeht, wenn man keine Lust mehr hat. Um Fünfjährige zu fördern, müssen sich Spiel- und Lernphasen abwechseln. Wer sich gerade eine Stunde auf dem Spielplatz ausgetobt hat, kann anschließend mit Ausdauer und Freude Buchstaben und Zahlen kennenlernen. In Berlin gab es bis 2005 eine Einrichtung, die Kindern genau das ermöglicht hat: die Vorschule. Die aber wurde unter Schulsenator Klaus Böger abgeschafft, die vorschulische Bildung allein den Kitas übertragen. Dort wird diese Aufgabe unterschiedlich interpretiert: Manche Einrichtungen bilden Vorschulgruppen, manche integrieren die Vorschularbeit in den Alltag, gelegentlich geht sie ganz unter. Umso härter ist dann der Wechsel in die Schule: Wer im Juli in der Kita den ganzen Tag gespielt hat, muss im September plötzlich reihenweise B und E schreiben. Wer in der Kita mittags in der Ruhezeit regelmäßig eingeschlafen ist, muss in Ganztagsschulen von acht bis 16 Uhr durchhalten und auch nachmittags noch aufmerksam zuhören. Natürlich gehört das zum Großwerden dazu. Aber nicht jedes Kind ist mit fünfeinhalb Jahren so weit. Deshalb ist es gut, dass es in Ausnahmefällen wieder möglich ist, Kinder ein Jahr später einzuschulen. Aber eine wirkliche Lösung für die Probleme in den Schulen ist die Rückstellung einzelner Kinder nicht. Wenn Berlin am frühen Einschulungsalter festhalten will, brauchen Lehrer mehr Unterstützung: Förderunterricht, der nicht ständig ausfällt, weil die Lehrer in anderen Klassen unterrichten müssen. Und Sonderpädagogen, die die Kinder mit Förderbedarf in kleinen Gruppen unterrichten. Die gibt es schon in den Schulen - aber nur immer mal wieder, und wenn sie anderswo dringender gebraucht werden, sind sie weg. Eine kontinuierliche Förderung sieht anders aus. Stattdessen auf die Schulanfangsphase zu verweisen, für die die Kinder zwischen einem und drei Jahren Zeit haben, ist keine Lösung. Jeder Siebenjährige weiß, was es bedeutet, wenn die mit ihm eingeschulten Kinder eine Klasse höher gehen und er nicht. Für Kinder ist Sitzenbleiben Sitzenbleiben, auch wenn es heute nicht mehr so heißt.

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