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BERLINER MORGENPOST: Die Metapher vom großen Kick
Leitartikel von Marius Schneider

Berlin (ots)

Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Immer. Behaupten zumindest die Experten. Und in einem fast hegelianischen Sinne scheint nun endlich welthistorisch wahr zu werden, was Kahn und Co. so lang schon predigen: bei dieser Europameisterschaft, bei diesem heutigen Spiel. Deutschland gegen Griechenland, These gegen Antithese - am Ende (und hier ist dann erst mal Schluss mit Hegel) kann es nur einen geben. Denn der Sieg wird entweder den Hochherzigen, Geschundenen, Unkaputtbaren gehören - oder den Knauserigen, Millionenverwöhnten und Fleißverliebten. Ja, es ist nur Fußball und eigentlich auch nur ein Spiel. Aber wenn wir ganz tief in die dunkle Seite unseres Herzens blicken, dann ist es wichtig und groß und schicksalhaft - und hat echt mehr Einschaltquote als jeder Fiskalpakteurorettungsgipfel. Dieser Viertelfinaltag ist Zahltag: Eure Sparknute, meine Bummelpleite - einer wird gewinnen, der andere ist dann endlich raus aus dem/der Euro. Und so trifft in mancher Augen jede Blutgrätsche gegen Philipp Lahms Wade ein bisschen auch die zähen Knochen von Angela Merkel, der hartleibigen Kanzlerin, die auf ihrem (also unserem) Geld hockt wie Dagobert Duck auf seiner Matratze. Und jedes Tor gegen die Griechen zertritt eben auch ein bisschen jede vermeintliche Lungerstunde bei Ouzo unter sanfter Sonne. Die Wahrheit liegt auf dem Platz, jawohl, und sie wird grausam sein! Nüchterne Realpolitiker und andere Langweiler wissen natürlich, dass sie da nicht liegt, die Wahrheit. Nicht auf dem Platz und nicht in diesem einen Spiel. Die Frage ist nur: Wo liegt sie dann? Mit dem Fiskalpakt auf dem Kabinettstisch der Kanzlerin? Dort liegt vor allem ein Formelkompromiss, in den jeder hineinlesen kann, was er mag: ein Wachstumspaket inklusive Finanztransaktionssteuer; oder eine Schuldenbremse ohne laxe Hintertüren für Griechen und andere Sozis. Liegt die Wahrheit auf dem Verhandlungstisch des Bundesverfassungsgerichts? Das hat sich beim Bundespräsidenten gerade Bedenkzeit für die Frage erbeten, ob und wie sehr der Bundestag bei europäischen Rettungsrunden mitreden darf und soll. Das eine Verfassungsorgan bittet das andere um Aufschub beim Entscheid über die Rechte des Dritten - ein fast schon mediterraner Moment in unserer als seelenlos verschrienen Rechtsstaatswirklichkeit. Sind wir in Wahrheit griechischer, als wir wahrhaben wollen? Nur auf etwas höherem wirtschaftlichen Niveau? Und so bleibt bei Suche nach Wahrheit oder dem Ort, an dem sie liegt, vielleicht doch nur der Blick auf den Platz. Oder besser, an dessen Seitenlinie. Denn da tummeln wir uns selbst: die besten Trainer, Fans und Kommentatoren jenes Spiels um den oder die Euro, das wir selbst meist nicht beherrschen, und das uns dennoch so viel bedeutet. Und würde man die Metapher vom großen Kick nur an zwei Stellen ein wenig begradigen (etwas mehr von der Emotion und etwas weniger von diesem "Alles oder nichts", bzw. "Die oder wir"), dann könnte man für den Euro 2020 schon eine Menge bewegen. Denn hier liegt der scheinbar langweilige Charme: Wir wären alle Gewinner.

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