BERLINER MORGENPOST: Leitartikel: Die Koalition des kalten Krieges; Hajo Schumacher nennt neun Gründe, warum das schwarz-rote Bündnis vom falschen Gleis aus startet
Berlin (ots)
Als Volker "Campino" Kauder das Mikrofon ergriff und "An Tagen wie diesen" anstimmte, da kam es zu einem kleinen, aber bedeutungsschweren Zwischenfall. Im Moment ihres größten Triumphes schnappte und entsorgte Angela Merkel ein schwarzrotgoldenes Fähnchen, das den Weg auf die Bühne zwischen die CDU-Spitzen gefunden hatte. Die Chefin ahnte offenbar, dass es in den nächsten Wochen wieder mal nicht um Deutschland, sondern allein um die Macht gehen würde. So kam es dann auch. Zwei Monate nach dem Wahlsieg erstellen die mutmaßlichen Koalitionspartner von Union und SPD keinen Plan fürs Land, sondern Wunschlisten. Aufbruch? Fehlanzeige. Leitplanken? Abgeschraubt. Zukunft? Egal. Dafür richten Angela Merkel und Sigmar Gabriel ihre Waffen aufeinander. Neun Gründe, warum diese Große Koalition vom falschen Gleis startet.
1. Misstrauen
Klingt altmodisch, aber ein wenig Ehrlichkeit wäre hilfreich, wenn es um 80 Millionen Schicksale geht. Leider drängt sich der Eindruck auf, dass sowohl die Kanzlerin als auch ihr künftiger Vize nicht unbedingt bis 2017 auf ihren Posten bleiben werden. Beide eint gegenseitiges Misstrauen, weil beide eine persönliche Lebensplanung verfolgen, die einer wünschenswerten Koalitionsstabilität zuwider läuft. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Angela Merkel zur Mitte der Legislaturperiode gen Brüssel strebt, erstens wegen Geschichtsbuch, zweitens, um sich nicht der Schmach der Abwahl aussetzen zu müssen wie ihre Vorgänger. Zugleich dürfte Sigmar Gabriel mit dem - natürlich rein theoretischen - Gedanken spielen, eines Tages selbst in das würfelförmige Gebäude einzuziehen. Mit der Öffnung nach Links hat er den Finger am Abzug, hält derzeit aber still, weil Merkel schlicht zu populär ist. Dass in Hessen nun überraschend Schwarzgrün funktionieren soll, könnte das Abschreckungspotenzial der Kanzlerin jedoch schlagartig wieder erhöhen. Die Linke ist Gabriels SS20, die Öko-Partei Merkels Pershing - eine Koalition wie Kalter Krieg.
2. Richtlinienkontinenz
Es scheint einen schweigenden Konsens unter Wahlsiegern zu geben, dass die politische Arbeit mit der ersten Hochrechnung vorerst als erledigt gilt. Das war 1998 bei Schröder so und 2009 vor Schwarz-Gelb. Der Wahlkampf war anstrengend genug. Richtlinienkompetenz ist gerade in jenen Zwischenzeiten ebenso gefragt wie rar. So ließen sich ganz simple Regeln festlegen, etwa die, dass für jede neue Ausgabe ein Sparvorschlag unterbreitet werden muss. Man könnte Vorrang für Investitionen befehlen oder jede Wohltat für Ministerpräsidenten an eine Entflechtung von Bund-Länderkompetenzen knüpfen. Stattdessen gibt Horst Seehofer die Richtung vor, mit seiner Maut-Operette. Warum donnert die in der Tasche geballte Faust der Kanzlerin nicht einfach mal auf den Verhandlungstisch?
3. Investitionen
Das Land fährt auf Reserve. Firmen schieben Investitionen trotz billigsten Geldes auf, deutsche Maschinen werden in aller Welt installiert, aber nicht daheim. Bürger und Unternehmer horten Geld anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Straßen, Netze, Gebäude müssten dringend modernisiert werden. Ein Masterplan "Neues Deutschland" würde Jobs schaffen, ein paar gammelige Ecken im Land verschwinden lassen und den Bürgern das Gefühl geben, dass die da oben es ernst meinen mit Zukunft.
4. Erwartungs-Management
Ratespiel: Welche exklusive Kernforderung aus dem CDU-Programm wurde in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt? Hm. Eigentlich keine. "Die haben gar keine Positionen", stellte ein SPD-Unterhändler verblüfft fest, "deswegen müssen die auch keine räumen." Als Erfolg verkauft die Kanzlerinnenpartei das Verhindern, vor allem von Steuererhöhungen. Die Gegenseite feiert Mindestlohn und Quote und demnächst wohl noch die doppelte Staatsbürgerschaft. Das Murren in der CDU schwillt an, zumal im Vergleich zu Schwarzgelb auch noch ein Ministerposten wegfällt. Wer hatte die Wahl noch mal mit nahezu absoluter Mehrheit gewonnen?
5. Ritualitis
Warum sitzen fast 100 Politiker um einen Tisch? Erstens fürs Foto und zweitens für das gute Gefühl des Eingebundenseins. SPD-Chef Gabriel hätte am liebsten noch jeden Ortsvereinsvorsteher nach Berlin gebeten, weil Mitmachen gerade im Trend ist. Klar, dass jeder Teilnehmer beweisen will, dass er auch eine Milliardenforderung unterzubringen schafft. Wie schwachsinnig aber ist es, zuerst den Wettbewerb der Wunschzettel zu befeuern, um die 50 aufgetürmten Milliarden an diesem Wochenende im Kreis der Vorsitzenden wieder zurückzuverhandeln. Seit Adenauers Zeiten hat die Wissenschaft einige durchaus vernünftige Kompromisstechniken entwickelt, die dem Stuhlkreis an Kosten und Resultaten überlegen sind.
6. Regime der Sozialingenieure
Parteiübergreifend wird akzeptiert, dass es einen anhaltenden Widerspruch gibt zwischen dem Wust von Sozialleistungen einerseits und ungelösten Problemen andererseits: Deutschland hat zu wenig Kinder, zugleich wird der Nachwuchs aus prekären Verhältnissen früh und konsequent abgehängt. Statt aber das Förderdurcheinander zu entrümpeln und wirkungsvolle Instrumente zu etablieren, wird immer mehr Geld ausgeschüttet. Wann spricht sich herum, dass Wohltaten nicht zwangsläufig Gerechtigkeit erhöhen?
7. Selbsterfahrungsgruppe SPD
Die sozialdemokratische Volkspartei ist eine Fiktion. Obgleich Interessengruppen wie Grüne und Linke längst ausgelagert wurden, hat die SPD 2013 noch immer keine Linie gefunden. Verfeindete Mittelmächte beherrschen den Laden. SPD-Chef Gabriel ist machtschlau genug, um keine große Linie vorzugeben, an die sich eh keiner hielte. Stattdessen bedient er seine schwer erziehbaren Fürsten mit allerlei Aufmerksamkeiten. Es geht ja nicht um Europa, sichere Rente, florierende Wirtschaft, sondern um das Ergebnis der Mitgliederbefragung. Die muss erkauft und erschmeichelt werden von disparaten Interessengruppen: Trauerarbeiter, die Oskars Weggang noch immer beweinen, reichlich Post-Schröder-Traumatisierte und dazwischen einige Pragmatiker, die still am mangelnden ökonomischen Bewusstsein der SPD verzweifeln, werden nicht von einer gemeinsamen Idee, sondern von rückwärtsgewandtem Zwist geeint.
8. Geisel Merkel
Es gehört zu den Absurditäten dieser Verhandlungen, dass die Zukunft der klaren Wahlsiegerin vom Votum einer emotional verwirrten SPD-Basis abhängt. Ausgerechnet die Machtfrau, die viel Wert auf Unabhängigkeit legt, steckt im Würgegriff von Ortsvereinen, die nichts lieber tun als Merkel-Quälen. Alternativen: Schwarz-Grün? Rot-Rot-Grün? Neuwahlen? Ach, lieber nicht.
9. Wo bleibt der Präsident? Von John F. Kennedy gibt es eine nette Zettel-Anekdote: Geschockt von Sputnik und Gagarin soll der US-Präsident seinem Vize Lyndon B. Johnson 1961 eine Notiz mit Fragen auf den Schreibtisch gelegt haben: Haben wir im Kampf ums Weltall eine Chance gegen die Sowjetunion? Welche Technologien sind nötig? Arbeiten wir täglich 24 Stunden daran? Das Ergebnis war eine gemeinsame Aufholjagd von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Am Ende stand Neil Armstrong auf dem Mond und gab seinem Land Stolz und Zuversicht. Wann legt Joachim Gauck der Kanzlerin einen Zettel auf den Schreibtisch, gleich neben das Bild von Katharina der Großen. Textvorschlag: "Liebe Angela, wir gelten als Land der Dichter und Denker. Lasse doch bitte einen Überblick erstellen, wo wir bei den Themen Energiewende, Digitalwirtschaft, Familien- und Bildungspolitik stehen? Wo können wir besser werden? Was lässt sich sparen? Was kann das Silicon Valley, was wir nicht können? Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, hier Weltspitze zu werden? Wenn nicht, dann bitte damit anfangen. Jetzt."
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