Kein Täter darf sicher sein
Die Ukraine dokumentiert Vergewaltigungen. Sie könnte Geschichte schreiben
Leitartikel von Gudrun Büscher
Berlin (ots)
Es dauerte lange, viele, viele Jahre, bis sie davon erzählen konnte, was Soldaten ihr als junges Mädchen im Zweiten Weltkrieg angetan hatten. Die Frau war 90 Jahre alt, am Ende ihres Lebens, als sie ihren Kindern plötzlich davon erzählte, wie sie tagelang gefangen gehalten und vergewaltigt wurde, bis ihr die Flucht gelang. Sie hat über die dunklen Kriegsjahre nicht geschwiegen, ihr eigenes Martyrium bis zu jenem Tag aber nie erwähnt. Alles war furchtbar in diesem Krieg, hat sie gesagt - und sich selbst und ihr Leid wieder unsichtbar gemacht. Vergewaltigung ist eine grausame Kriegswaffe. Sie wird eingesetzt, um Macht, Hass, Verachtung auszudrücken, aus entfesselter Gier, wenn jedes Mitgefühl erloschen ist - mit grauenvoller Systematik. Den Tätern sind die verheerenden Folgen der sexualisierten Gewalt sehr wohl bewusst. Sie machen den Körper der Frauen und Kinder zum Schlachtfeld. In dem 14 Jahre lang tobenden Bürgerkrieg in Liberia waren 50 bis 70 Prozent aller Frauen Opfer von Vergewaltigungen. Der Arzt und Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege kümmerte sich im Ostkongo täglich um sieben Opfer schwerster sexueller Gewalt - 20 Jahre lang. In den 1990er-Jahren wurden zwischen 20.000 und 50.000 muslimische Mädchen und Frauen während des Bosnienkrieges von serbischen Männern vergewaltigt. Noch heute sind im Irak Hunderte jesidische Frauen und Mädchen verschwunden, die von Kämpfern des selbst ernannten "Islamischen Staates" seit August 2014 versklavt und vergewaltigt werden. Man könnte diese Liste endlos lang werden lassen. Denn es gibt keinen Kriegsschauplatz auf der Welt, der diese Brutalität nicht kennt - mit allen Folgen für die Opfer und die Gesellschaft. Im Iran sind es in erster Linie Frauen, die ihre Angst verloren haben und gegen das Mullah-Regime auf die Straße gehen. Und es sind vor allem Frauen, die nun in Gefängnissen oder nach Festnahmen Opfer sexueller Gewalt werden. Das Ziel der Täter - demoralisieren, den Kampfgeist untergraben, die Opfer stigmatisieren, das soziale Gefüge zerstören, dem Feind zeigen: Wir nehmen euch alles. Ein Muster, das sich auch in der Ukraine wiederfindet.Man kann es kaum glauben, aber erst seit 2008 werden Vergewaltigungen in Kriegszeiten von den Vereinten Nationen als Kriegsverbrechen bezeichnet. Viel zu lange stand und steht das Leid der Frauen im Schatten von Panzerschlachten und Frontkämpfen. Dabei wird der Krieg schon immer in die Zivilbevölkerung getragen: Die Opfer sind Mütter, Frauen, Schwestern, Töchter. Die Ukrainerinnen und Ukrainer versuchen, in der Abwehr des russischen Angriffskriegs vieles besser zu machen. Der politische Wille in Kiew ist erkennbar, der Gewalt auch andere Mittel entgegenzusetzen. Die Ukraine will das Schweigen beenden, die Opfer sichtbar machen, die Verbrecher nicht davonkommen lassen. Die Vergewaltiger dürfen nicht einfach in der Menge der Soldaten untertauchen und irgendwann abziehen. Sie gehören wie alle Kriegsverbrecher vor einen Strafgerichtshof. Beweissicherungen und DNA-Analysen trotz der Bombardements, Blackouts, trotz der zerstörten Wasserversorgung und eisiger Temperaturen sind kein juristischer Schnickschnack, sondern der einzige Weg zur Gerechtigkeit - hier könnte die Ukraine Geschichte schreiben. Und die deutsche Hilfe bei dieser Arbeit ist ein Zeichen feministischer Außenpolitik. Vergewaltigungen sind keine Kollateralschäden des Krieges. Sie sind Verbrechen. Kein Täter darf sich sicher fühlen.
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