Die Sturheit der Grünen
Deutschland ist eher Hakenfelde als Innenstadt. Mit Folgen für die Partei
Leitartikel von Hajo Schumacher
Berlin (ots)
Hakenfelde muss man mögen. Der Stadtteil liegt im Industriegürtel zwischen Spandau und Tegel, der Schatten des 90 Jahre alten Heizkraftwerks Reuter reicht fast bis zu den Mietskasernen, kleinen Häuschen und Schrebergärten. Das Brandenburger Tor ist weit. Hier wuchs Kai Wegner auf, Sohn eines Bauarbeiters und einer Verkäuferin, mutmaßlich der nächste Regierende Bürgermeister.
Gemessen an der Melodie des Koalitionsvertrags rechnet sich Wegner einer neuen Generation von Unionspolitikern zu, die das Publikum nicht nur mit Poltereien aus der Söder-Klasse unterfordern. Bürgermeister Wegner wird sich eher als flexibler Konservativer präsentieren, so wie die erfolgreichen Kollegen Günther in Schleswig-Holstein und Wüst in NRW, die den Klimawandel akzeptieren, sich mit Kinderwagen auf Instagram präsentieren und sogar öffentlich Rad fahren.
Zehn Milliarden Sondervermögen für den Klimaschutz? Das hat Wegner in den Berliner Koalitionsvertrag verhandeln lassen. Wie Wüst und Günther dämonisiert er grüne Themen nicht, sondern übernimmt sie, stark abgemildert, dafür sozialverträglich dosiert. Deutschland-Tempo, das ist eben nach wie vor eine gewisse Gemächlichkeit. Doch langsam passiert ja was. Der Fleischkonsum der Deutschen etwa ging zuletzt deutlich zurück. Viele Bürger, oft angespornt von Kindern und Enkeln, kapieren, dass Schnitzel kein Menschenrecht sind, aber in mehrfacher Hinsicht ein problematisches Lebensmittel, weil Nutztierhaltung Ressourcen frisst. Und Klimaschutz ist mehr als Festkleben, zum Beispiel ein Konjunkturprogramm für Handwerk und Mittelstand.
Während die alten Volksparteien mehrheitsfähige Öko-Themen entführen, fallen die Grünen in alte Sturheitsreflexe zurück. Ob in Berlin das alberne Rangeln um die Friedrichstraße, ob im Bund das Unvermögen, die notwendige Heizungsmodernisierung behutsam einzufliegen - oft steht die eigene Bockigkeit im Weg und der Unwille zu akzeptieren, dass Deutschland mehr Hakenfelde ist als akademisch dominiertes Altbauviertel. Schon bizarr, wenn sich führende Grüne über die Radikalität der Klimakleber aufregen, um zugleich das willkürliche Aus für Atommeiler zu feiern, weswegen Kohlekraftwerke weiterstinken.
Die Grünen möchten für einen neuen Stil stehen. Doch statt Empathie, Kreativität und Pragmatik zeigen sie zu viel machtpolitische Naivität. Natürlich kann man sich aufregen, weil Wahlverliererin Giffey sich der CDU andiente. Aber die Instinktpolitikerin hat gespürt, dass sie mit Wegner eher die Mehrheit der Stadt erreicht als mit einer Partei, die sich lieber im Aktivistischen einrichtet.
Die neue, alte Berliner Koalition ist womöglich eine Blaupause für das Land. In Krisenzeiten tendieren die Deutschen zum Bewährten. SPD und Union könnten auch im Bund regieren, gemeinsam mit der FDP wäre sogar eine rot-schwarz-gelbe Deutschland-Koalition beisammen, mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Die Grünen blieben Meckerer am Spielfeldrand.
Das Verb "scholzen" ist definiert als langes Zuwarten, das mit einem überraschenden Zug endet. Der Kanzler zeigt offensiv seine Sympathie für die FDP. Wissings Verbrenneroperette hat den Liberalen Punkte gebracht, egal wie man die Inszenierung bewertet. Geraten die Landtagswahlen in diesem Jahr für die SPD zum Desaster, könnte Scholz die Giffey machen und mit Union und FDP bis zur Bundestagswahl eine bürgerliche Koalition schmieden, mit der Macht der verfassungsändernden Mehrheit. Die Ampel im Bund ist nicht am Ende wie Rot-Grün-Rot in Berlin. Aber sie läuft auf Bewährung.
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