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WAZ: Hungertod eines Säuglings: Wer wegschaut, misshandelt mit - Leitartikel von Rolf Potthoff

Essen (ots)

Was muss geschehen, damit die tödliche Lethargie
endlich weicht aus den Köpfen? Die Teilnahmslosigkeit: Ich bin ich; 
was anderen Übles geschieht, geht mich nichts an. Als der zweijährige
Kevin so elendig starb, gelobten Politik und Gesellschaft Einsicht. 
Doch nun starb Andre´; verhungert, verdurstet - vor vielen Augen.
Und nun? Ist nun alles klar, weil Staatsanwälte gegen die 
Mitarbeiterin des Jugendamts wegen fahrlässiger Tötung ermitteln? Wer
so schnell urteilt, verfällt einem erbärmlichen Reigen, den man das 
Abwälzen von Verantwortung nennt. Doch das hat sich zu oft schon als 
"todsicher" erwiesen: Wo jeder anderen Verantwortung zuweist, 
verschwimmen Verantwortung und Zuständigkeiten, was das Beheben von 
Missständen verhindert. So bleibt alles, wie es ist.
Wer aber trägt Schuld an Andre´s Tod? Offenkundig haben hier 
Behörden tatsächlich auf skandalöse Weise versagt. Jedem Fachmann 
hätte der kritische Zustand des Babys sofort auffallen müssen. Doch -
ist es zu schwer zu begreifen, dass der Staat nicht die allumfassende
Instanz sein kann, die Menschen zeitlebens betreut, alimentiert und 
bewacht? Das Private ist die Keimzelle der Gesellschaft. Deshalb ist 
die Frage der Verantwortung in so schrecklichen Fällen zu allererst 
an die Eltern zu richten.
Doch muss dieser Tod nicht umso nachdenklicher machen, weil er im
schreienden Gegensatz zu dem steht, was wir tagtäglich aus 
Politikermund hören: Vorrang für Kinder, Priorität ihrem Schutz, mehr
Krippenplätze, Sprachförderung, mehr Chancen für jedes geborene 
menschliche Wesen, damit es später gleichberechtigt am 
gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Und dann dies.
Klaffen da zwischen Wort und Wirklichkeit nicht Welten 
auseinander? Natürlich kann sich das Furchtbare auch in den feinsten 
Häusern ereignen. Aber erreichen unsere Konzepte zum Schutz und zur 
Förderung von Kindern überhaupt jene Schichten, die man "prekär" 
nennt und in denen solche Tragödien am häufigsten sind? Brauchen wir 
nicht gerade für sie spezielle Rezepte der Familienbetreuung und 
Gesundheitsvorsorge - oder wollen wir sie als "hoffnungslos asozial" 
ein für allemal abschreiben?
Nur weil sie starben, fiel das Schicksal von Kevin und Andre´ 
auf. Doch wir wissen, dass zahllose Kinder misshandelt und 
vernachlässigt werden. Deshalb ist das Entsetzen, wenn das nächste 
Kind stirbt, nicht viel mehr als Heuchelei. Was gerade für diejenigen
gilt, die um schreckliche Zustände in ihrer Nähe wissen - und 
schweigen.

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Zentralredaktion
Telefon: (0201) 804-8975
zentralredaktion@waz.de

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