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WAZ: Phänomen Bürgerentscheide Die Dynamik der direkten Demokratie - Leitartikel von Tobias Blasius

Essen (ots)

Wer etwas über die verbliebene Mobilisierungskraft
von Parteipolitik erfahren will, muss sich an die oft bemühte, aber 
viel zu selten besuchte "Basis" begeben. Regelmäßig maue 
Beteiligungszahlen bei Kommunalwahlen, ausgezehrte Ortsvereine, 
überalterte Mitgliederstrukturen - um die lokale Kampagnenfähigkeit 
stand es schon besser. Immer weniger Menschen buchten das politische 
"All-inclusive-Paket" aus Mitgliedschaft, Gesinnungstreue und 
Gremienarbeit am Feierabend, klagen Parteifunktionäre. Das 
Meinungsklima scheint flüchtiger geworden, die Bindungslust nicht 
größer.
Diese für die etablierten Parteien beklagenswerte Entwicklung wird
häufig als gesellschaftliche Entpolitisierung gedeutet. Dagegen 
spricht die Bereitschaft vieler Bürger, sich durchaus punktuell zu 
engagieren. Für den Erhalt des örtlichen Schwimmbades, der 
Stadtteilbibliothek oder sonstiger lokaler Infrastruktur. Die fast 
routiniert bejammerte "Politikverdrossenheit" entpuppt sich eher als 
Überdruss an den gängigen, vielleicht unumgänglichen 
Organisationsformen und Arbeitsprozessen von Politik.
Vor 13 Jahren schon hat der Gesetzgeber in Nordrhein-Westfalen den
Bürgern zwei zentrale Instrumente der direkten Einmischung in die 
Hand gelegt: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Mit quälenden Quoren
und allerhand bürokratischen Pflichten versehen, kann diese Form der 
Basisdemokratie jedoch Stadtrat und Verwaltung kaum gefährlich 
werden. In Großstädten müssen Initiatoren von Bürgerentscheiden 20 
Prozent aller Wahlberechtigten an die Urne bringen - mancher 
Oberbürgermeister wäre froh, wenn er mit solchen absoluten Zahlen ins
Amt gehoben worden wäre.
So ist es wenig verwunderlich, dass 40 Prozent aller 
Bürgerbegehren scheitern. Verwunderlich ist vielmehr, dass NRW 
trotzdem bundesweit mit die aktivste Praxis in der direkten 
Demokratie hat. Vorneweg das Ruhrgebiet: Am Sonntag steht in Essen 
ein Bürgerentscheid an, Anfang September in Mülheim, auch in 
Duisburg, Hattingen, Oberhausen oder Velbert wurden zuletzt Begehren 
eingereicht.
Nicht jede Initiative ist von Weitsicht oder politischer 
Verantwortung gekennzeichnet. Zuweilen werden, sekundiert von der um 
lokale Verwurzelung bemühten Linkspartei, auf diesem Wege bloß 
populistisch-pauschale Absagen an das Establishment adressiert. 
Dennoch könnte die repräsentative Demokratie auf lokaler Ebene 
stärker von der Dynamik der direkten profitieren, wenn sie ihre 
Urangst vor "aktivistischen Minderheiten" ein wenig ablegte.

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Telefon: (0201) 804-0
zentralredaktion@waz.de

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