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WAZ: 100 Tage Bundesregierung - Die Stunde der Pragmatiker - Leitartikel von Walter Bau

Essen (ots)

Wer Visionen hat, spottete einst Alt-Kanzler Helmut
Schmidt, der sollte besser zum Arzt gehen. Schmidt, der hanseatische 
Preuße, war ein Handwerker der Macht, der Ideologie verabscheute - 
einer freilich, der sein Handwerk verstand. Kaum ein Politiker 
handelte so konsequent nach dem Motto, wonach Politik die Kunst des 
Machbaren ist. Und wie sieht es heute aus in Berlin?
Visionen vermitteln die Koalitionäre von Union und FDP, die heute 
seit hundert Tagen regieren, nicht. Dies ist auch nicht das Problem. 
Denn angesichts einer Rekordverschuldung, die den 
Gestaltungsmöglichkeiten enge Grenzen setzt, wären mehr denn je 
Pragmatiker der Macht gefragt, die drängende Probleme ohne politische
Scheuklappen angehen. Stattdessen aber lähmen sich Union und FDP 
gegenseitig - mit einer Mischung aus Klientelpolitik, 
machtpolitischen Grabenkämpfen und Unfähigkeit zur klaren 
Entscheidung.
Stichwort Klientelpolitik: Die FDP boxt ein Steuergeschenk für 
Hoteliers durch, obwohl dies außer den Hoteliers kaum einer 
nachvollziehen kann. Oder, jüngstes Beispiel: Liberalen-Chef 
Westerwelle mosert gegen den Ankauf der CD mit Daten wohlhabender 
Steuerflüchtlinge und nimmt dafür sogar den offenen Dissens mit der 
Kanzlerin in Kauf.
Stichwort Grabenkämpfe: Roland Koch torpediert aus Hessen die 
Jobcenter-Pläne seiner Partei-Kollegin Ursula von der Leyen. Oder: 
FDP-General Lindner stänkert in der Debatte um die Gesundheitsreform 
gegen CSU-Mann Söder, der müsse sich entscheiden, "ob er Teil des 
Problems oder der Lösung sein will".
Stichwort Entscheidungsunfähigkeit: Das leidige Gezerre um den Sitz 
von Erika Steinbach in der Vertriebenen-Stiftung geht nun schon seit 
Monaten. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das gleiche gilt für den Streit
zwischen CSU und FDP um die Kopfpauschale. In allen drei Punkten 
ließe sich die Liste fortsetzen.
Statt an den Problemen, arbeiten sich die Regierungsparteien 
aneinander ab. Die Kanzlerin hat nicht die Kraft, ihre Leute zur 
Ordnung zu rufen. Merkels Nimbus der über dem Klein-Klein stehenden 
Präsidial-Regentin bröckelt zusehends, glänzende Auftritte auf 
internationalem Parkett können ihre Führungsschwächen nicht mehr 
überstrahlen. Und ihr Vize, FDP-Chef Westerwelle, betet das Mantra 
von großzügigen Steuererleichterungen, als lebte er in einer 
Parallelwelt. Die schwarz-gelben Wunschpartner sind schneller in der 
Realität angekommen als erwartet. Besinnen sie sich nicht schnell auf
eine solide Politik, wird sie der Wähler abstrafen. Als erstes im Mai
in NRW. Um dies zu prophezeien, muss man kein Visionär sein.

Pressekontakt:

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Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de

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