Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Von Liberalen und Leihstimmen. Kommentar von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Nein, es gibt keine Leihstimmen. Die CDU verwaltet nicht Säcke von Stimmen, die sie für eine Wahl verleihen könnte an eine andere Partei. Wähler sind frei, sie fühlen sich auch immer freier. Von Leihstimmen zu sprechen, offenbart ein Bild vom Wähler als einem unfreien Wesen, das reflexhaft, also ohne nachzudenken, sein Kreuz setzt. Taktisch zu wählen kann intelligent sein. Und auch die Behauptung, in Niedersachsen sei es doch gerade schiefgegangen, ist nicht statthaft. Das Geraune in der CDU, es hätten zu viele Menschen FDP gewählt, sodass die Union zu schlecht abgeschnitten hat, offenbart mindestens ein gebrochenes Verhältnis zur Mathematik. Nein, die knapp zehn Prozent für die Liberalen in Niedersachsen bedeuten nicht die Wiedergeburt der FDP. Das Leiden an einer FDP, die nichts Liberales liefert, ist schließlich nicht zu Ende. Es blieb ja nicht bei der antiliberalen Ursünde, der Hotelsteuer. Wie sich das Betreuungsgeld, die Subvention für die daheim bleibende Mutter, mit einem staatsfernen, eben liberalen Verständnis vom Einzelnen in seinem Gemeinwesen vertragen soll, bleibt rätselhaft. Und weiterhin gibt es auf große gesellschaftspolitische Probleme keine überzeugenden Antworten. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes unter Schröder mag im liberalen Sinn gewesen sein, die damit aber einhergehende, unregelmäßiger Beschäftigung geschuldete Bedrohung durch Altersarmut zu ignorieren, ist einäugig und feige. Und die Euro-Krise, die auch eine unmäßiger Spekulation und aus dem Ruder gelaufener Banken ist, hätte gerade eine liberale, also marktwirtschaftliche Antwort verdient. Das Kartellrecht ist eine Erfindung der Liberalen. Es schützt Verbraucher vor der Macht von Monopolen. Wieso will die FDP von Verbraucherschutz so wenig wissen? Nein, dieses Duo Rösler plus Brüderle wirkt nicht überzeugend, sondern aus taktischer Not und Friedenssehnsucht geboren. Ja, es gibt immer noch viele Menschen, die sich ein Parlament ohne eine liberale Partei nicht vorstellen können oder wollen. Die Grünen sind eher pädagogisch als liberal, die beiden Großen schielen stets auf den Staat. Das lässt mehr Platz als eine Nische.
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