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WAZ: Die Geschichtslosigkeit der jungen Generation: Desorientiert - Leitartikelon Gerd Niewerth

Essen (ots)

Je näher der 8. Mai, dieses magische Datum der
jüngeren deutschen Geschichte rückt, desto opulentere Züge nimmt die
Berichterstattung über Kriegsende und Befreiung, über
Nationalsozialismus und Holocaust an. Tag für Tag flimmern nun
Dokumentationen und Serien in die deutschen Wohnzimmer. Die
Erinnerungsmaschinerie läuft auf vollen Touren. Nach den jüngsten,
Besorgnis erregenden Umfragen muss man sich allerdings fragen, was
dieser mediale Dauer-Geschichtsunterricht in den Köpfen der Menschen,
zumal der jüngeren, bewirkt. Offenbar ist das recht wenig. Dass nur
35 Prozent den 8. Mai spontan als Kriegsende identifizieren konnten,
mag man noch milde als „mangelhafte” Leistung tadeln. Wenn aber für
jeden Zweiten unter 24 Jahren der Begriff „Holocaust” ein
bedeutungsloses Fremdwort ist, muss man von einer Peinlichkeit
sondergleichen sprechen. Diese stellt nicht nur der vornehmen Zunft
der Historiker ein Armutszeugnis aus. Was viel mehr bedrückt: Die
offenkundige Geschichtslosigkeit der jüngeren Generation ist auch ein
authentisches Spiegelbild dieser Gesellschaft. Einer Gesellschaft,
die trotz Krisen und Rekordarbeits- losigkeit übersättigt und geistig
träge, ja desorientiert wirkt. Einer Gesellschaft, in der der schnöde
Mammon anscheinend wichtiger ist als die Moral. Zwangsläufig fehlt
den jungen Deutschen die schmerzhafte und prägende Urerfahrung des 8.
Mai. Sie sind aufgewachsen in einer überaus behüteten Epoche. Soviel
Wohlstand, Frieden, Demokratie und Stabilität hat es zu keiner Zeit
auf deutschem Boden gegeben. Aber dieses wohlige Gefühl kann gewaltig
täuschen. Wer nicht weiß, dass alle diese Errungenschaften
unmittelbar auf den 8. Mai zurückzuführen sind, lebt höchst
gefährlich. Kein Wunder, dass selbst Altbundeskanzler Helmut Schmidt
kürzlich anmerkte, dass er die Deutschen immer noch für ein
„gefährdetes Volk” hält.

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