Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Union bleibt womöglich Opposition: Merkel enttäuschend und vieles offen - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Nun ist die Ehrliche erst einmal die Dumme. Merkels Wahlkampf- Konzept, ihren Wählern mit einer ungeschminkten Analyse Deutschlands zu kommen und das zu verbinden mit einem Programm des Weniger, ist auf der ganzen Linie gescheitert. Gewiss, es gibt auch noch andere Gründe, weshalb die Union so schwach abgeschnitten hat, vor allem die hausgemachten Fehler in einem insgesamt chaotischen Wahlkampf. Bayerns Stoiber bringt die Ostdeutschen gegen die Union auf, Merkel verwechselt brutto und netto, und dann das TV-Duell, bei dem Merkel zwar besser abschnitt als allgemein erwartet worden war, aber eben auch schwächer als Schröder. Der SPD ist es viel besser gelungen als der Union, das als großen Sieg zu verkaufen. Im Bewusstsein der Menschen war Schröder damit der stärkere Kanzler. Entscheidend aber war, dass Merkel für die Wähler zwar eine Reihe von Opfer-Botschaften bereithielt, von der Mehrwertsteuer-Erhöhung über die Abschaffung der Steuerfreiheit der Sonn- und Feiertagszuschläge bis hin zu einem schwächeren Schutz vor Kündigungen, aber wenig Zuversicht in eine bessere Zukunft wecken konnte. Sie ist damit Opfer geworden eines unbestreitbaren Zusammenhangs: Reformen brauchen Zeit, um zu wirken. In dieser Zeit verliert man Wahlen. Schließlich erwies sich Kirchhof am Ende dann doch als Flop. Merkels persönliche Zukunft ist damit ungewiss. Der Union steht eine turbulente Woche bevor, in der offen oder auch verdeckt über fast alles diskutiert werden wird, auch über eine Ablösung Merkels. Diese Chance werden sich ihre starken Gegner, die Ministerpräsidenten, aber auch Hoffnungsträger-Figuren wie Merz, kaum nehmen lassen. Das gilt selbst dann, wenn Merkel Kanzlerin werden sollte in einer großen Koalition, denn das wäre, gemessen an den hohen Erwartungen innerhalb der Union, fast ein Eingeständnis des Scheiterns. Für einen Aufbruch Deutschlands steht jedenfalls eine Regierung aus beiden großen Volksparteien nicht. Zu groß sind in der Sache die unterschiedlichen Standpunkte, als dass es möglich wäre, eine Politik aus einem Guss zu formulieren etwa unter der Überschrift: Vorfahrt für Arbeit. Das heißt aber nicht: Rien ne va plus. Zu den Dingen, die doch noch gehen, gehören auch wichtige Angelegenheiten, etwa eine Föderalismusreform, die auch der Wirtschaft helfen würde. Denkbar ist auch eine unternehmensfreundliche weitere Steuerreform, wie sie schon einmal auf dem letzten Job-Gipfel angedacht worden war. Möglich erscheint auch eine Kürzung von Subventionen, behutsam bei der Pendlerpauschale, entschiedener bei der Eigenheimzulage. Eine Reform des Arbeitsmarktes ist nicht zu erwarten. Stattdessen viel Spielraum für bürokratisches Weiterwurschteln. Vergleichbar fällt die Bewertung der zweiten Koalitions-Option aus: eine rote Ampel. Machtpolitisch müsste dafür Schröder ein großes Interesse haben, er könnte Kanzler bleiben. Die SPD bliebe Regierungspartei, würde sich zehrende innerparteiliche Richtungsdebatten ersparen. Fischer könnte Außenminister bleiben, Westerwelle Vize-Kanzler werden (als Justizminister). Aber auch hier gilt: Verheißungsvoll wäre eine solche Kombination sicher nicht, auch aus dem Ausland würde sie als Hort der Instabilität bewertet. Die Deutschen haben gewählt, und am Ende lautet die offensichtliche Botschaft: möglichst viel Sicherheit, möglichst wenig Risiko. Ob sich damit vor allem die ökonomischen Herausforderungen der Zukunft bewältigen lassen, ist offen.
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