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WAZ: Kommentar zu: 2006 das wichtigste Veränderungsjahr: Der stürzende Adler ist weg - Von Ulrich Reitz

Essen (ots)

Irgendetwas in Frau Bundeskanzlerins
142-Quadratmeter-Büro ist anders. Und zwar hinter ihrem im Boden
eingelassenen, unverrückbaren Vier-Meter-Schreibtisch, der eigens per
Kran hierhin gehievt werden musste. Richtig: Der Baselitz ist weg.
Der Maler hat sein Bild zurückbekommen. Merkel wollte keinen
abstürzenden Bundesadler mehr hinter sich hängen haben. Schröder mag
den Sinkflug selbstironisch aufgefasst haben, Merkel mochte nicht so
da sitzen, mit diesem Abschwung-Gemälde hinter sich.
Schröder ist inzwischen als Halbrusse im Geschäft und seine
Nachfolgerin nun die Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG. Ihre
Firma ist ganz ordentlich aufgestellt, mit einer Riege gestandener
Kollegen, wenigen Exoten; keine Experimente, lautet der nie
ausgesprochene Slogan der Veranstaltung. Wenn Deutschland sich schon
von einer ostdeutschen Physikerin lenken lässt, dann soll die sich
auch physikerinnenhaft benehmen und nicht, wie etwa ein rheinischer
Marktschreier italienischer Herkunft (nichts gegen Rheinländer, schon
gar nichts gegen solche aus Italien).
Was fehlt: die Richtungsangabe. Da hat der Bundespräsident, der
gerne schwarz-gelb präsidiert hätte, schon Recht. Unterphilosophiert,
hat NRW-Premier Rüttgers in '05 über den CDU- Wahlkampf geurteilt.
Unterphilosophiert ist auch die große Koalition. Sie ist nicht links,
nicht rechts, nicht liberal. Bislang ist sie von allem ein bisschen.
Und wie sollte es anders auch sein? Mit der Koalition ist es wie mit
der Gesundheitsreform: Kopfprämie und Bürgerversicherung passen
eigentlich nicht zusammen, aber die wichtigste Aussage dabei ist das
„eigentlich” – will sagen: sieht so aus, als ginge es am Ende doch.
Menschen, die Ergebnisse an sich lieben, werden es mögen; solche, die
gerne wissen, wo es lang geht, werden enttäuscht sein.
Und 2006? Wird ganz sicher das wichtigste innenpolitische Jahr der
Regierung. 2006 wird die Koalition auf jeden Fall halten. 2006 gibt
es nur wenige Wahlen, und nach Lage der Dinge wird sich in Rheinland-
Pfalz und Baden-Württemberg wenig bis nichts ändern, und Sachsen-
Anhalt ist aus Berliner Sicht nur Randlage. Wenn also regiert wird,
dann jetzt. Große Würfe sind nicht zu erwarten, allenfalls dort, wo
es ohne die beiden Großen auch sonst nicht geht: bei der
Föderalismus-Reform etwa. Ob die Summe aus vielen Klein-Kleins am
Ende des Jahres Deutschland geholfen haben wird, kann niemand
vorhersagen. Ein bisschen anders beim Dollar, ein wenig teurer beim
Öl, eine politische Gas-Explosion in der Ukraine - und schon wird aus
Prognose wertlose Prophetie.
Im Großen und Ganzen geht der von Müntefering gegengezeichnete
Kanzlerinnen-Brief ans Volk in Ordnung. Allerdings steht eine gut
gemeinte Unachtsamkeit drin: „Ich kann nicht akzeptieren, dass wir
für so viele arbeitswillige Männer und Frauen in unserem Land keine
Beschäftigung finden.” Wer ist „wir”? Was hat die Bundesregierung mit
der Telekom zu tun (minus 32 000 Jobs)? Was mit Daimler (minus 16
000)? Was mit Volkswagen (minus 14 000)? Was mit Opel (minus 12 000)?
Was mit der Deutschen Bank (minus 6400)? Was mit Siemens (minus
5400)? Anders gefragt: Wie viel von der Rendite ist der Rendite
geschuldet und wie viel der Globalisierung, dem Markt, dem
Fortschritt?
Wenn also Merkel die Deutschland AG führt – was ist dann die
Deutschland AG? Industriefreie Zone etwa? Als „Basarökonomie” (Hans-
Werner Sinn) wäre dieses Riesenland kaum überlebensfähig, von den
unkalkulierbaren sozialen Folgekosten einmal ganz zu schweigen. Eine
Leitkultur-Debatte ist überflüssig: aber nützlich wäre es schon, wenn
die Werktätigen in den oberen Etagen sich bisweilen wieder klar
machten, in welchem Land sie schaffen, wo sie ihre Kinder zur Schule
schicken, warum das alles seinen Sinn hat, und so weiter. Und welche
unternehmerische Verpflichtung sich daraus ergibt, selbst für
lediglich angestellte Manager.
2006 wird nicht das Jahr, in dem Visionen wahr werden. Aber wenn
schon das Machbare Wirklichkeit wird, geht es wahrscheinlich ganz
vielen besser. Wenn das kein Grund ist zu heiterer Zuversicht.

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