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WAZ: Ein Gipfel folgt dem anderen: Regierung im Höhenrausch - Kommentar von Angela Gareis
Essen (ots)
Es wird Zeit, dass jemand einen Unterschichtengipfel fordert, denn man hat relativ plötzlich ein gewaltiges Problem erkannt, und gewaltige Probleme behandelt die Große Koalition umstandslos auf höchster Ebene. Als zu Jahresbeginn auffiel, dass Energie knapp wird, berief Kanzlerin Angela Merkel einen Energiegipfel ein. Der war im März. Vor einer Woche gab es den zweiten Energiegipfel. Am Montag tagte ein Familiengipfel, weil Frauen, die arbeiten, zu wenig Kinder bekommen, was auch ein Problem ist.
Zwischendurch wurde im Juli ein Integrationsgipfel veranstaltet und im September ein Islamgipfel. Momentan verlangen Abgeordnete einen Demokratiegipfel wegen der Rechtsradikalen, aber daraus wird vielleicht nichts. Die Bundesregierung hat mit fünf absolvierten Gipfeln und einem ausstehenden Energiegipfel eine so hohe Dichte erreicht, dass man womöglich einen Gipfelgipfel benötigte, um alles Weitere zu planen. (Gerhard Schröder, der den Jobgipfel erfunden hat, übte vorher mit runden Tischen und Hartz-Kommissionen.)
Die Gipfel funktionieren so: Die wichtigsten Spitzenleute, die etwas mit dem jeweiligen Thema zu tun haben, setzen sich zusammen. Jeder Teilnehmer darf einmal reden, zwei bis vier Minuten oder etwas länger, wenn es gut läuft. Zum Schluss einigt man sich auf eine Absicht. Selbstverständlich kommt es auch vor, dass solche Treffen nützlich sind. Der Islamgipfel war ein Wert an sich, weil erstmals zerstrittene Muslime an einem Tisch Platz nahmen.
Internationale Gipfel, etwa EU-Gipfel, ergeben Sinn, weil man die ganzen Regierungschefs schwerlich in ein Lokal einladen kann, wenn es etwas zu bereden gibt. Die Inflation deutscher Gipfel aber wirft beunruhigende Fragen auf, obwohl die Regierung bloß signalisieren will, dass sie Probleme auch wirklich bemerkt. Ist Deutschland derart durcheinander, dass Verantwortliche außerhalb von Gipfeln gar nicht das tun, was Menschen eigentlich glauben? Man hofft schließlich, dass Entscheidungsträger etwas öfter miteinander reden. Entwerten die Gipfel nicht auch die Bedeutung des Bundestages, die schon unter den Ersatzparlamenten in den Talkshows gelitten hat?
Mit dem Blick auf den Demokratiegipfel scherzt der Sozialdemokrat Olaf Scholz leicht beklommen: "Dann müssten wir ja einen Höhenwanderweg anlegen." Wenn dieser irgendwann zu einem Unterschichtengipfel führte, würde die Politik eventuell schlagartig erkennen, wie weit sie sich vom wirklichen Leben entfernt.
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