Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Hilflose Rituale helfen nicht: Zwei Seiten der Gewalt - Kommentar von Sigrid Krause
Essen (ots)
Nein, auch diesmal ist der Schrecken nicht aus dem Nichts gekommen. Sebastian B. hat ihn akribisch vorbereitet und der Welt verkündet. Gelesen und verstanden wird seine Botschaft erst hinterher.
Reflexartig gibt es wieder die bekannten Forderungen: Dass menschenverachtende, bluttriefende Video-Spiele verboten werden müssen zum Schutz der jungen Leute. Dass Lehrer und Schüler geschützt sein müssen in ihren Klassen. Es sind berechtigte Anliegen - nur leider kein Fall für den Gesetzgeber, weil selbst schärfste Strafandrohungen keinen Attentäter bremsen werden.
Meldungen über gewalttätige junge Leute haben Hochkonjuktur: Ein 18-jähriger wird von drei Zellengenossen gefoltert und ermordet, aus Langeweile und weil gerade keiner guckt. Davor sorgten Jugendliche für Schlagzeilen, die Gleichaltrige verprügelten oder vergewaltigten für den Video-Clip im Internet. Jetzt ein Attentäter, der vier Jahre nach Erfurt seinen starken Abgang noch dramatischer öffentlich vorbereitet hat. Hilflos steht die Republik vor dem Phänomen.
So hilflos wie vor einem anderen: Die Zahl der Babys und Kleinkinder, die durch ihre (jungen) Eltern zu Tode kommen, steigt. Mitten in einer Gesellschaft, die das Leben mit Kindern gerade neu entdeckt und feiert, geraten ausgerechnet sie zunehmend in Gefahr. Fast 80 000 Kleinkinder sind in diesem Land akut von Vernachlässigung bedroht, ihr Sterben ist für die Experten ein kalkulierbares Risiko geworden.
Beides hat nichts miteinander zu tun? Ganz im Gegenteil, sagt einer wie Karl Landscheidt: Wer als 18-Jähriger spektakulär seinen Selbstmord inszeniert, tut dies nicht spontan. Welches Kind später im Leben Probleme haben wird, ist für ihn schon in den ersten Lebensjahren erkennbar. Dabei kann vieles "auffällig" sein: Besonders aggressives Verhalten gehört dazu und Hyperaktivität, aber auch stille Depressionen oder das autistische Ausklinken aus der Gemeinschaft. Wer als Kind mit solchen Handicaps ins Leben startet, scheitert später leicht; die meisten versanden in lebenslanger Arbeitslosigkeit und Armut, einzelne aber schlagen sich im Wortsinn durchs Leben. Oder beenden es mit einem Knall.
Anti-Gewalt-Trainings, Streitschlichter-Programme, Hiphop-Workshops - all' diese Versuche, gerade Jungen Alternativen zum Zuschlagen anzubieten, sind gut und richtig. Erreichen aber nicht die, die Hilfe besonders dringend brauchen. Früh hinschauen - das bewahrt Kinder vor dem Abdriften in die Gewaltspirale. Und: richtig reagieren.
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