neues deutschland: Kommentar: Wahlen in der Wendezeit¶
Berlin (ots)
Zum Ende dieses Wahlkampfes ist auf einen Anfang hinzuweisen: Ab Montag tickt die Uhr einer gesellschaftlichen Wende, deren Ausmaß man keinesfalls zu gering einschätzen darf. Es geht dabei nicht zuallererst um die Frage, wer die Mehrheit für welche Regierung zusammenbringt. Es geht auch nicht um die - zugegebenermaßen hoch beunruhigende - Frage, was der Einzug einer rechtsradikalen Partei in den Bundestag noch alles nach sich zieht. Man muss die Perspektive wechseln, um die Dimension der Wendezeit zu begreifen: Was wir im Wahlkampf erlebt haben, die großkoalitionären Duette und die schnappatmungsaktiven Debatten der »kleinen Parteien«, der medial angefeuerte Erfolg der Provokationsstrategie der Rechten, die Abwesenheit wichtiger Themen (Europa, Technologie) und das Übergewicht von politischen »Kontroversen«, die mehr mit der Vergangenheit zu tun haben als mit der Zukunft - all dies sind Insignien eines politischen Betriebs, der sich überlebt hat und der nun an der Reihe ist, sein Morgen einzuläuten. Merkels letzte Amtszeit? Die EU vor dem Umbau? Neue Kräfteverhältnisse nach der Europawahl? Mehr globale Sicherheit? Ausstieg aus der Klimakatastrophe? Alternativen zu Ungleichheit, Ressourcenabbau, Armut? Die Herausforderungen sind schon lange da. Und ja: »Die Politik« hat es nie ganz allein »in der Hand«. Was sich bei ihr abspielt, ist immer auch ein Ausdruck komplizierter, auch widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhältnisse. Was heißt das für die Linken? Wer über die AfD reden will, kann über die insgesamt nach rechts tendierenden Mehrheiten nicht schweigen. Wer über andere Mehrheiten reden will, kann die Angst nicht übergehen, die diese bei vielen auslösen. Wer über diese Angst reden will, der muss auf die globalen Veränderungen im Kapitalismus zu sprechen kommen und auf ihre Auswirkungen vor Ort. Wer über eine Alternative dazu reden will, muss ehrlich sein, was die Bedingungen ihrer Durchsetzung angeht. Wer diese Bedingungen realistisch einschätzt in einer Welt, in der die Produktionsverhältnisse global alles auf alles beziehen, der kann nicht bei politischen Verhältnissen stehenbleiben, die glauben, sich vor einer verändernden Wirklichkeit abschotten zu können. Wer über diese Grenzen hinausgehen will, muss sich darüber Gedanken machen, in welchen internationaleren Formen diese bearbeitet werden. Wenn der Gramsci-Spruch von der »Zeit der Monster« stimmt, die eintritt, wenn »die alte Welt« im Sterben liegt und eine neue noch nicht geboren ist, dann müssen die damit zusammenhängenden Fragen auch an die politische Gegenwart gestellt werden. Ist ein Wahlkampf der eingeübten Routinen angemessen gewesen in solch einer Zeit? Verlaufen wichtige Konfliktlinien längst vor allem innerhalb der Parteien und lassen markante, die Zukunftsfragen betreffende Unterscheidungen in der Konkurrenz zwischen den Parteien verwischen? Lenkt das neues trübes Wasser auf die Mühlen derer, die sogar die schrecklichste Vergangenheit bemühen für ihre Version von »Zukunft«? Das, was sich tief im Untergrund gesellschaftlicher Verhältnisse verschiebt, löst an der Oberfläche beängstigende Entwicklungen aus, treibt soziale und politische Regression voran. Leider. Über das, worauf das Ganze hinauslaufen könnte, ist damit aber nichts Abschließendes gesagt. Das heißt auch: Es gibt die Möglichkeiten linken Reagierens, progressiver Einwirkung, alternativer Pfade. Diese Zukunft kann am Sonntagabend beginnen. Klar ist auch: Es ist eine Zukunft, die nicht von alleine soziale, ökologische, freiheitliche Züge annehmen wird. Es ist eine, zu der man nicht viel mit die Vergangenheit betreffenden Schuldzuweisungen beitragen kann. Es wird nicht mehr darum gehen, abermals anzumahnen, sich nun aber ganz ganz wirklich in die rot-rot-grünen Vorbereitungen für 2021 zu stürzen. Die gesellschaftliche Linke muss einsehen, dass es ihren Einzelteilen nicht viel bringt, vor allem untereinander den Konflikt zu suchen. Und die Krise der repräsentativen Demokratie wird man nicht damit lösen können, dass man die Logik von Parteien in den Vordergrund stellt, statt die Eigensinnigkeit des Souveräns ernst zu nehmen, der mal als »Lager der Solidarität« Geflüchteten hilft, mal zu einer Demo für einen neuen Kreisverkehr geht und mal etwas wieder ganz anderes tut. Die Lage ist für jene, die einen weit reichenden Wandel erhoffen, nicht besonders gut. Rechtsruck, schwarz-gelbe Mehrheit - der Sonntagabend, so viel lässt sich erwarten, könnte einen heftigen Schlag in die Magengrube bringen. Das gilt nicht nur für dieses Land und die Linken darin. Aber wie die Politik in diesem Land aussieht, wirkt sich auch darauf aus, wie viel Hoffnung sich die Linken anderswo machen können. Die werden genau auf das Ergebnis vom Sonntag blicken. Und darauf, wer sich wie und mit wem an die Zukunft macht, die dann beginnt.
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