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Mittelbayerische Zeitung: Ohrfeige aus Karlsruhe
Das Urteil zur Drei-Prozent-Hürde ärgert etablierte Parteien und sägt am Selbstverständnis des EU-Parlaments. Leitartikel von Hanna Vauchelle

Regensburg (ots)

Denkbar knapp fiel das Urteil aus: Mit fünf zu drei Stimmen kippte Karlsruhe die Drei-Prozent-Hürde bei den Europawahlen. Damit ist der Weg für Freie Wähler, Piraten und NPD frei. Die Begründung der Richter, dass die Stimme jedes Wählers die gleiche Erfolgschance haben müsse, leuchtet ein. Verstörend ist hingegen, was Karlsruhe vom Europaparlament zu halten scheint: relativ wenig. Das Urteil ist eine Ohrfeige für die Straßburger Kammer. 163 europäische Parteien tummeln sich derzeit im Europaparlament. Das Wegfallen der Dreiprozenthürde dürfte nach der Wahl sechs bis sieben weitere Gruppierungen aus Deutschland in die Volksvertretung katapultieren. Was dies für die parlamentarische Arbeit bedeutet, lässt sich vorausahnen. Die Kammer wird zersplitterter, manche Entscheidungen werden schwieriger zu fällen sein. Allerdings ist Panikmache fehl am Platz. Man kann davon ausgehen, dass sich gemäßigte Gruppen wie die Freien Wähler oder die ÖPD Fraktionen anschließen und Europa konstruktiv mitgestalten werden. Tun sie dies nicht, wird es ihnen wie den Rechtsextremen und den Populisten von NPD und AfD ergehen: Sie bleiben versprengte Einzelkämpfer, deren Anliegen im babylonischen Brüssel kein Gehör finden. Stimmen für diese Parteien sind also verlorene Liebesmüh. Insofern können die etablierten Parteien den Wahlen gelassen entgegen blicken. Dennoch: Auch wenn das Urteil in seiner jetzigen Form von Beobachtern nicht anders erwartet worden war, muss der gestrige Tag erst einmal verdaut werden. Denn Karlsruhe ärgert mit dem Aus der Klausel nicht nur die etablierten Parteien, sondern sägt auch am demokratischen Selbstverständnis des Europäischen Parlamentes. Das tragende Argument für die Fünfprozenthürde bei Bundestagswahlen, nämlich die Erhaltung der Handlungsfähigkeit, billigt Karlsruhe dem Europaparlament nicht zu. Dahinter verbirgt sich folgender Gedanke: Da die Straßburger Kammer im Gegensatz zum Bundesparlament keine Regierung wählen müsse, könne es ja egal sein, ob Mehrheitsbildungen möglich seien oder nicht. Sie haben an der Gesetzgebung zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise mitgewirkt, wichtige Änderungen bei der Haushaltsplanung durchgesetzt und die europäische Landwirtschaftspolitik grüner gemacht. Europaabgeordnete, die den Richtern vorwerfen, die politische Wirklichkeit zu verkennen, haben Recht. Das Parlament ist seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages mächtiger und einflussreicher als je zuvor. Zudem treten bei dieser Wahl die Parteien mit einem europäischen Spitzenkandidaten an. Damit wird der Wähler zum ersten Mal darüber abstimmen können, wer neuer Kommissionspräsident werden soll. Die Ausrede vom Demokratiedefizit der EU zieht dieses Mal nicht mehr. Der Ärger der etablierten Parteien über das Urteil ist also verständlich. Letztendlich könnte sich die ganze Sache trotzdem als positiv entpuppen. Denn der gestrige Richterspruch hat die Parteien wachgerüttelt. Das lässt auf einen spannenden Wahlkampf hoffen, bei dem endlich Europa in den Vordergrund gerückt wird. So wie vor fünf Jahren darf es nicht noch einmal ablaufen, als es im Wahlkampf lediglich um Innenpolitik ging und darum, die Regierung abzustrafen. Die etablierten Parteien müssen jetzt die Chance nutzen, so viele Wähler wie möglich zu mobilisieren. Eines ist klar: Je höher die Wahlbeteiligung ausfällt, desto weniger Chancen haben die Splitterparteien, ins Europaparlament einzuziehen. Vielleicht war der ganze Ärger am Ende ganz umsonst.

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