Mittelbayerische Zeitung: Angela Merkels langer Atem - Die Kanzlerin begeht ihren Geburtstag, wie sie regiert - unaufgeregt, bescheiden und mit dem Blick nach vorn. Von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Angela Merkel steht im neunten Jahr ihrer Kanzlerschaft. Sie regiert mit einer halbwegs erfolgreichen Großen Koalition, die in kurzer Zeit allerhand Reformen auf den Weg brachte. Sie ist die unbestritten einflussreichste Politikerin in der EU, spricht mit den Präsidenten der USA, Chinas und Russlands auf Augenhöhe. Und so ganz nebenbei wird sie heute 60 Jahre alt. Für dieses Jubiläum ist sie nicht verantwortlich zu machen. Und der Rummel um ihre Person ist ihr an diesem Tag erst recht nicht sehr angenehm. Angela Merkel begeht ihren 60. Geburtstag, so wie sie regiert - unaufgeregt, bescheiden und mit dem unverstelltem Blick nach vorn. Mit den Erfahrungen einer klugen Hausfrau, die die Haushaltskasse zusammen hält. Mit der Chuzpe einer gewieften Politikerin, die weiß, wie man Macho-Politiker domestiziert. Und mit dem visionären Blick über den tagesaktuellen Tellerrand hinaus in globale Weiten und Zeiten. Was sie sagt, klingt nicht immer furchtbar revolutionär, nicht immer schlagzeilenträchtig, nicht immer euphorisierend, doch das schert sie nicht. Angela Merkel ist gerade so erfolgreich, weil sie eine Kanzlerin der sanften Veränderung, - wenn man so will - der Evolution ist. Eine große Sause wird es heute im Konrad-Adenauer-Haus nicht werden, wenn der Historiker Jürgen Osterhammel über globale Veränderungen sprechen wird. Wahrscheinlich eher nachdenklich. Eine Feier mit eher geistiger Nahrung, weniger mit geistigen Getränken. Das hat sie schon bei ihrem 50. Geburtstag so gehalten, als der Hirnforscher Wolf Singer erklärte, der freie Wille des Menschen sei eine Illusion. Viele Christdemokraten schauten sich damals zweifelnd an, denn der freie Wille, das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, gilt sozusagen als das Glaubensbekenntnis, als Grundfeste einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Der Hirnforscher rüttelte mit klugen Überlegungen an dieser Bastion. Und die zuverlässig-berechenbare Merkel hat offenbar Gefallen daran, scheinbar unumstößliche Wahrheiten infrage zu stellen. Anders als Helmut Kohl, der immer ein politisches Projekt vor Augen hatte - die politische "Wende" 1982, die deutsche Einheit 1989/90 oder die europäische Einheit mit der Einheitswährung Ende der 90er Jahre - ist Angela Merkel weniger auf ein Projekt mit einem relativ festen Ende fixiert, sondern mehr auf den Prozess an sich. Aus der Finanz- und folgenden Wirtschaftskrise 2008/09 zog sie den Schluss, dass Deutschland aus ihr stärker hervorgehen müsse, als es hinein ging. Das ist ihr und der damaligen Regierung, den Tarifpartnern und allen Bürgern gelungen. Freilich zum Preis, dass sich die Unterschiede zwischen dem prosperierendem Deutschland und den südlichen EU-Partnern gewaltig vertieften. Diese offenkundige Spaltung der EU zu überwinden, ohne Deutschlands Wohlstand und Wachstum aufzugeben, ist heute Merkels größte Herausforderung. Es gibt einige Parallelen zwischen Angela Merkel und Jogi Löw, dem erfolgreichen Nationalmannschaftscoach, der ebenfalls vor rund zehn Jahren, damals mit Jürgen Klinsmann, begann, den deutschen Kickern das Rumpeln auszutreiben und modernen begeisternden Fußball zu spielen. Wie Löw wird Merkel so schnell nicht das Handtuch werfen. Erstens weil sie weiterhin erfolgreich ist, zweitens weil die Zeit für eine Stabübergabe nicht gekommen ist. Noch lange nicht. Merkel verfügt über historischen Atem.
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