Mittelbayerische Zeitung: Die Konstante
Von wegen angeschlagen: Die CDU-Chefin hat in kämpferischer Manier ihre Führungsrolle unterstrichen. Leitartikel von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Spätestens seit im Zuge der Flüchtlingswelle Hunderttausende Menschen nach Deutschland kamen, ist die seit Jahren sieggewohnte Kanzlerin Angela Merkel nicht mehr unangreifbar. Das Vertrauen in die Kraft, in die Politik der CDU-Vorsitzenden schmolz dahin wie Schnee in der warmen Sonne. Es gingen wichtige Landtagswahlen verloren, die in "normalen Zeiten" einschneidende Konsequenzen erfordert hätten. Rechts von der CDU etablierte sich eine populistische Partei, die großspurig mit dem wahren Willen des Volkes reüssiert. Und mit der christsozialen Schwesterpartei in Bayern liegt die CDU-Vorsitzende in einem tiefgehenden Streit, der das Zerwürfnis zwischen Helmut Kohl und Franz Josef Strauß noch in den Schatten stellt. Eigentlich könnte Merkel nun, noch halbwegs würdevoll, abdanken. Der Platz für die erste weibliche Regierungschefin der Bundesrepublik in den Geschichtsbüchern wäre ihr sicher. Eine beispiellose Karriere - von der DDR-Physikerin zur mächtigsten Frau Deutschlands, Europas, vielleicht sogar der Welt - könnte enden. Doch Merkel will die politische Bühne nicht als Verliererin verlassen. Sie will nicht dem schmählichen Vorbild eines David Cameron oder eines Matteo Renzi und bald eines Francois Hollande folgen. Merkel ist Merkel und somit tief von protestantisch-christdemokratischem Pflichtbewusstsein durchdrungen. Viel wurde über das "System Merkel" gerätselt. Dabei liegt eine Wurzel ihres Erfolgs, aber auch ihres schwindenden Rückhalts in der Bevölkerung, in ihrer trocken-nüchternen Prinzipienfestigkeit. Merkel wurde gestern mit einem respektablen Ergebnis wiederum zur CDU-Vorsitzenden gewählt, weil es erstens keine personelle Alternative zu ihr gibt. Und zweitens weil sie sich noch einmal in die Pflicht nehmen lassen will. Von wegen angeschlagen, wie viele innerhalb und außerhalb der Union im Vorfeld des Essener Parteitages wähnten. Die CDU-Vorsitzende hat gestern in kämpferischer Manier ihre Führungsrolle unterstrichen. Der Widerstand gegen Merkels hochumstrittene Flüchtlingspolitik blieb, bis auf wenige Ausnahmen, aus. Die CDU ist, wieder oder immer noch, ganz klar auf Merkels Linie. Das stärkt Merkel zugleich in der Auseinandersetzung mit Seehofer. Dessen symbolträchtige Forderung nach einer Zuzugs-Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr hat Merkel gestern mit keiner Silbe erwähnt. Dieser Punkt wird demzufolge im gemeinsamen Unions-Wahlprogramm für 2017 auch keine Rolle spielen. Die CDU-Chefin lässt den grantelnden CSU-Vorsitzenden in dieser Frage ins Leere laufen. Ob Merkel im kommenden Herbst freilich wiederum zur Kanzlerin gewählt werden wird, steht indes auf einem anderen Blatt. Für Merkel spricht, dass viele Menschen in schwierigen Zeiten dazu neigen, auf Vertrautes zu setzen, die Konstante zu wählen, keine Experimente anzugehen. Merkel ist die Konstante. Sigmar Gabriel, oder wer sonst für die SPD den Kandidaten geben sollte, ist dagegen der Unbekannte, das Experiment, vielleicht gar in Rot-Rot-Grün. Eine solche Frontstellung - hier die konservative Erneuerin, da die radikal soziale Wende - kommt der Union sogar entgegen. Sie kann einerseits gegen die rot-rot-grünen Socken mobilisieren, andererseits bietet die rechtspopulistische AfD genug Reibungsflächen, um die Union als gutbürgerliche Kraft darzustellen, die nichts mit den Flüchtlingshassern und Europaskeptikern am Hut hat. Der kommende Wahlkampf dürfte mit harten Bandagen geführt werden. Er ist, trotz Merkels gestrigem Triumph in der eigenen Partei, völlig offen.
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