Das Vertrauen steht auf der Kippe
Nach dem Astrazeneca-Desaster steht fest: Der Staat muss endlich aufhören, morgens etwas zu verkünden, abends dann aber anders zu handeln. Von Markus Decker
Regensburg (ots)
Die Kritik am Bundesgesundheitsminister kennt derzeit wenig Grenzen. Aus Jens Spahn - dem Super-Helden, dem Fast-CDU-Vorsitzenden und Fast-Kanzlerkandidaten der Union - ist der "Gott sei bei uns" der deutschen Corona-Politik geworden, der möglichst schnell ersetzt gehört - am besten durch einen anderen Super-Helden namens Karl Lauterbach, SPD. Der neue Hashtag bei Twitter lautet entsprechend: "Wir wollen Karl." So verständlich der Zorn angesichts des Astrazeneca-Desasters ist, so vordergründig ist er auch.Richtig ist, dass die sogenannte Performance des 40-jährigen Gesundheitsministers lange schon besser war als seine Politik. Am Ende war nicht mal mehr die Performance überzeugend. Das Chaos mit den Schnelltests - die Jens Spahn vollmundig ankündigte und die dann doch nicht kamen - geht allein auf des Ministers Kappe. Und dass er in der Hochphase der Pandemie noch Zeit und Chuzpe hatte, unter Nicht-Beachtung der Corona-Regeln Spendengelder für seine Partei einzusammeln, ist ebenso unbegreiflich wie unverzeihlich. Unbegreiflich ist auch, dass Spahn vormittags im CDU-Präsidium dazu aufrief, Fortschritte bei der Impfkampagne zu preisen und nachmittags Astrazeneca fürs Erste aus dem Verkehr zog.Nur: Dass er den Impfstoff vorerst aus dem Verkehr zog, war richtig. Denn es hieß ja von Beginn an, man müsse die Vakzine einer strengen Kontrolle unterziehen, um ihre Akzeptanz zu erhalten. Eben das geschieht jetzt. Ferner folgt Deutschland aktuell lediglich dem Beispiel anderer Länder. Und schließlich wäre Jens Spahn ab Montag für jeden "Astrazeneca-Toten" haftbar gemacht worden, wenn er anders gehandelt hätte.Karl Lauterbach im Übrigen in allen Ehren: Der SPD-Gesundheitsexperte ist gewiss kenntnisreicher als Spahn und ein guter Mann. Freilich hat er dessen Corona-Politik über weite Strecken mitgetragen. Zudem lebt Lauterbachs Nimbus davon, dass er wie ein unabhängiger Experte Ratschläge gibt, ohne dass diese Ratschläge stets alle auf ihre Realisierbarkeit geprüft würden. Nebenbei bemerkt ist er in der SPD-Bundestagsfraktion weder gesundheitspolitischer Sprecher noch der für die Gesundheitspolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Das sind zwei Frauen, die - mit Verlaub - außerhalb des Berliner Regierungsviertels niemand kennt. Die Hoffnung auf neues Personal ist ohnehin immer auch ein Stück Projektion. Denn die objektiven Probleme bleiben ja.Ein letzter Punkt kommt hinzu: Nirgends in Europa - außer in Großbritannien - läuft es mit Corona richtig gut. Dabei läuft es in Großbritannien auch nur deshalb "gut", weil dort - Achtung Pointe! - Astrazeneca millionenfach zur Anwendung kam. Überhaupt stellt sich die Frage, warum ein Impfstoff, der in der EU zentral zugelassen wurde, nicht auch zentral wieder vom Markt genommen wird, wenn die Lage es erfordert.Aus all dem folgt zweierlei: Es muss rasch geklärt werden, wie schädlich oder nützlich das Vakzin tatsächlich ist. Im Zweifel muss man den Bürgern vielleicht selbst die Güterabwägung überlassen. Das wäre unter normalen Umständen zwar mit Recht ausgeschlossen. Doch was ist heute noch normal?Zuallererst aber muss eines endlich aufhören: Dass morgens von Staats wegen das Eine gesagt und abends das Andere gemacht wird, wie es seit Monaten geschieht. Der Staat darf nur noch versprechen, was er halten kann. Alles andere ist mutwillige Zerstörung von Vertrauen. Es geht ja längst nicht mehr allein um Corona. Es geht um den Glauben an die Handlungsfähigkeit des Staates. Dass dieser Glaube auf breiter Front verloren zu gehen droht, ist weitaus gefährlicher als die Pandemie.
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