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Landeszeitung Lüneburg: Die Macht der Moral
Politologe Ulrich von Alemann: Affären und Rücktritte kein Indiz fÏr Werteverfall, sondern für strengere Maßstäbe

Lüneburg (ots)

Gefälschte Dissertationen, außereheliche Kinder, zuletzt der Fall Christian von Boetticher, der eine Beziehung zu einer 16-Jährigen hatte -- geht der Anstand in der Politik den Bach runter? Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich von Alemann sagt: "Nein. Poliker sind auch nur Menschen." Was sich aber wandele, seinen die moralischen Maßstäbe.

Sind Macht und Moral inkompatibel?

Prof. Dr. Ulrich von Alemann: Macht und Moral sind durchaus keine Gegensätze. Das gilt übrigens nicht nur für Politiker, sondern auch für Bischöfe, Unternehmer, Künstler oder Universitätsrektoren --- eben für alle, die Macht haben. Sogar der berühmt-berüchtigte Theoretiker der Macht, Machiavelli, sah hier keinen Gegensatz, sondern forderte, der Herrscher solle sich nach moralischen Grundsätzen richten, aber nicht allein...

Ist moralisierende Politik grundsätzlich nicht eher verdächtig als glaubwürdig?

Von Alemann: Wir wollen keine Moralapostel als Politiker. Früher sprach man von Pharisäern, also Menschen, die gern den Splitter im Auge des anderen sehen, aber den Balken im eigenen Auge eher nicht. Moralisierende Politiker tendieren zur Heuchelei, zum Predigen einer Moral, der sie selbst sich nicht unterwerfen. Das ist extrem unbeliebt.

Horst Seehofer hat in den ersten Tagen der Guttenberg-Plagiatsaffäre gesagt: Zurücktreten müsse einer nur, wenn seine Partei das will. War Chris"tian von Boettichers Rückzug wirklich eine Frage des Anstands oder ging es dabei nur um handfeste Politik, Macht und Intrige?

Von Alemann: Es geht wie immer um beides bei solchen Vorfällen. Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg ist am Ende doch gefallen. Seehofer hatte insofern nicht recht damit, dass er frei darüber entscheiden kann, ob die moralischen Maßstäbe richtig sind oder falsch. Er wollte ihn halten, aber das konnte er nicht, weil der Druck der Öffentlichkeit zu groß wurde. Bei Christian von Boetticher scheinen die innerparteilichen Auseinandersetzungen die Hauptrolle gespielt zu haben. Weder die Opposition noch die Medien, die ja beide ein Wächteramt in einer Demokratie ausüben, haben den Fall ans Licht gebracht und zu einem Skandal gemacht, sondern es haben ganz offensichtlich Parteifreunde kräftig mitgeholfen, weil sie ihm dieses Amt nicht zutrauten oder es ihm neideten.

Ist Schleswig-Holstein ein besonders heißes politisches Pflaster? Man denke an Uwe Barschel und Heide Simonis...

Von Alemann: Nein. Auch in anderen Bundesländern gab es kleinere und größere Skandale. Aber in Schleswig-Holstein ist die politische Kultur sicher recht spannungsgeladen. Besonders die beiden großen Parteien haben sich dort über Jahrzehnte scharfe Auseinandersetzungen geliefert.

Hätte Christian von Boetticher seine Ämter noch, wenn er für die Hamburger CDU angetreten wäre?

Von Alemann: Vielleicht. Aber wenn seine Partei genauso gegen ihn geschossen hätte, wäre es auch dort schwierig geworden. Die Hamburger sind sicherlich insgesamt toleranter, was das Privatleben von Politikern angeht --- das haben wir bei Ole von Beust erleben können. Im Übrigen hat es in den vergangenen Jahrzehnten auch in der Hamburger CDU --- und in der SPD nicht weniger --- heftige interne Auseinandersetzungen bis hin zu persönlichen Intrigen gegeben.

Und in einer anderen Partei?

Von Alemann: Bei einer sehr liberalistischen Partei wie den Grünen ist die Toleranzschwelle niedriger, aber auch dort gibt es Grenzen. Von Boetticher hat sich erst durch seine Reaktion endgültig um seine Ämter gebracht: Er hat --- wie auch zu Guttenberg --- anfangs relativ wenig eingeräumt, dann hat er übertrieben und theatralisch reagiert. Zudem soll seine Freundin zu Beginn der Beziehung erst 15 Jahre alt gewesen sein, und da geht es dann nicht mehr um Toleranz, sondern um einen Rechtsverstoß. Insofern hätte von Boetticher auch in jeder anderen Partei einige Prob"leme bekommen.

Horst Seehofer ist auch mit einem außerehelichen Kind noch Ministerpräsident, Guttenberg genießt trotz seiner abgeschriebenen Doktorarbeit durchaus Sympathien in der Bevölkerung. Ist die CSU liberaler als die CDU, die ja seit Langem heftige interne Wertedebatten führt?

Von Alemann: Nein, das kann man so sicher nicht sagen. Die CSU bezeichnet sich ja selbst als eine konservative Partei, die an Familienwerten festhält. Allerdings kommt auch die CSU nicht am Wandel des klassischen Familienbildes vorbei. Seehofers Affäre hat die Partei nur zähneknirschend akzeptiert.

Gerhard Schröder wurde seiner vier Eheringe wegen spöttisch "Audi-Kanzler" genannt, Landesbischöfin Margot Käßmann hat sich scheiden lassen, und selbst die konservative Wählerklientel akzeptiert inzwischen homosexuelle Politiker. Verschieben Politiker und andere Amtsträger die moralischen Koordinaten?

Von Alemann: Moralische Maßstäbe verschieben sich in der Regel nur ganz allmählich innerhalb der gesamten Gesellschaft. Blicken wir 50 Jahre zurück: Kurz nach 1961 musste ein Hamburger Bürgermeister, Paul Nevermann, zurücktreten, als herauskam, dass er eine Geliebte hatte. Vor 75 Jahren, also 1936, galten nun wieder ganz spezielle Maßstäbe. Und wenn wir 100 Jahre zurückblicken, ins Kaiserreich, haben wir wieder andere Moralvorstellungen -- das kann man in Heinrich Manns "Der Untertan" nachlesen. Wertvorstellungen können sich aber auch sehr schnell ändern: Im Bonner "Haus der Geschichte" war auf dem Schild neben Adenauers Dienst-Mercedes zu lesen, der Kanzler habe mit diesem Wagen Staatsbesuche in Europa absolviert, Wahlkampfreisen gemacht und er sei damit in den Urlaub nach Italien gefahren. Heute wäre das ein Skandal, nach all den Dienstwagen- und Bonusmeilen-Affären. Jetzt müsste die Frage kommen, ob die Moral immer schlechter wird...

Wird sie das?

Von Alemann: Im Gegenteil. Was sich wandelt, sind allein die Maßstäbe. Am eben genannten Beispiel kann man sehen, dass die Maßstäbe in vielen Bereichen höher und strenger werden. Heute würde Franz Josef Strauß sicher nicht als erfolgreicher Politiker seine Affären überleben. Auch was das Umweltverhalten oder die Prügelstrafe in der Kindererziehung angeht, ist vieles heute überhaupt nicht mehr akzeptabel. Und das Verhalten der Menschen, von den Nachbarn bis zu den Politikern, muss sich diesen schärferen Maßstäben anpassen. Aber das gelingt nicht immer.

Politiker genießen in Umfragen regelmäßig ein miserables Ansehen. Zugleich sind die Erwartungen an sie in der Gesellschaft groß, es scheint eine Sehnsucht nach Lichtgestalten zu geben. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Von Alemann: Die Maßstäbe, an denen Politiker von den Bürgern gemessen werden, sind wegen ihres Mandates besonders streng. Aber Politiker sind eben auch nur Menschen. Hinzu kommt, dass Politiker in einem Maßes unter Beobachtung durch die Medien stehen, wie es das früher nicht gegeben hat. Und die Medien legen häufig noch rigidere Maßstäbe an als die Bevölkerung. Ich meine aber, dass Politiker keinen höheren moralischen Maßstäben genügen müssen, als andere Amtsträger, also "Machthaber" in Unternehmen, Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften oder auch in Schulen. Ein Lehrer oder Hochschullehrer trägt genauso viel Verantwortung und muss genauso Vorbild sein. Hinzu kommt: Bei den meisten Berufen wird strikt getrennt zwischen Privatleben und dem Job --- bei Politikern aber nicht. Das war früher anders: Über die Frauengeschichten von Politikern wurde zwar geflüstert, aber es stand nicht in der Zeitung.

Steuer- und Versicherungsbetrug gelten offenbar bei vielen Bürgern als Kavaliersdelikte. Bei öffentlichen Personen werden jedoch auch allzu menschliche Verfehlungen skandalisiert. Ist das nicht schlicht Doppelmoral?

Von Alemann: Eindeutig. Gesetze werden gern mal ein bisschen übertreten, weil sonst nichts läuft. Wer sich an jedes Tempolimit hält, hält den Verkehr auf. Und was ist schon dabei, den Sachbearbeiter bei der Bauverwaltung auf einen Kaffee einzuladen? Aber man muss aufpassen, dass aus dem kleinen, schrägen Verhalten kein systematisches Tun resultiert.

Silvio Berlusconis Eskapaden mit einer jungen Marokkanerin waren vor allem deshalb ein Aufreger, weil er dafür bezahlt haben soll. Auch französische Präsidenten wurden für angebliche Affären beinahe bewundert. Werden an deutsche Politiker höhere Wertmaßstäbe angelegt?

Von Alemann: Jedes Land hat seine eigene politische Kultur. Und obwohl wir in einem zusammenwachsenden Europa und in einer globalisierten Welt leben, bleiben die Moralmaßstäbe sehr verschieden. Was in Italien üblich ist, wäre in Norwegen oder Finnland nie akzeptabel.

Und schon gar nicht in den USA...

Von Alemann: Ja, dort ist man besonders strikt. Aber auch in Asien. In machen Dingen viel rigider, in anderen aber auch freier. Das nährt die Doppelmoral. Das Moralverhalten ist ein bunter Flickenteppich. Meine Schlussthese lautet: Die Moral wird nicht generell schlechter, auch nicht die von Politikern. Sie wird einfach nur pluralistischer. In manchem wird sie besser, in manchem aber auch problematischer. Es kommt immer sehr auf den Einzelfall an.

Das Gespräch führt Klaus Bohlmann

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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