Landeszeitung Lüneburg: ,,Kaum eine Wachablösung ohne Krieg" -- Interview mit der Historikerin Prof. Andrea Komlosy
Lüneburg (ots)
Viele nehmen den Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens, der weit mehr als nur das kommende Jahr prägen wird, als überraschende Verschiebung der Machtverhältnisse in der Welt wahr. Aus historischer Sicht ist der Aufstieg und Fall hegemonialer Mächte aber normal, sagt die Wiener Historikerin Prof. Andrea Komlosy. Das Fatale daran: "Solche globalen Umbrüche kommen selten ohne Krieg aus."
Erleben wir mit dem anbrechenden "asiatischen Jahrhundert" eine Normalisierung -- eine Rückkehr zu lange, bis in die beginnende Neuzeit, ähnlichen Verhältnissen?
Prof. Andrea Komlosy: Wir erleben in der Tat eine Rückkehr zu einer ostasiatischen Dominanz. Ob China sich wirklich zum neuen Hegemon aufschwingt, ist noch nicht ausgemacht. Eine Stärkung Asiens gegenüber Europa und Amerika ist aber schon jetzt zu beobachten. Ob man das aber als "Normalisierung" bezeichnen soll, da bin ich skeptisch. Denn wer definiert, was der Normalzustand der Globalgeschichte ist? Normal erscheint noch am ehes"ten die Ablösung von Hegemonien, nicht die Dominanz Ostasiens.
Aber sie ist auch kein Ausnahmezustand. Verdrängte der Westen, dass seine Dominanz kein Naturgesetz ist?
Prof. Komlosy: Wir haben uns derart an westliche Überlegenheit gewöhnt, dass wir dazu neigen, diese in die Geschichte zurück zu projizieren. Ebenso trifft man oft eine Haltung an, heutigen Entwicklungsländern eine quasi ewige Rückständigkeit zu attestieren. Das ist selbstverständlich eine Fehleinschätzung. So waren China, Indien, der arabische Raum und Kleinasien über Jahrhunderte technologisch, militärisch und wirtschaftlich überlegen. Insofern birgt die Frage ein spannendes Forschungsfeld, wie sich das Vorurteil herausbilden konnte, dass diese Regionen schon immer rückständig waren. Die aktuellen geopolitischen Verschiebungen rücken in dieser Hinsicht einige Fehleinschätzungen zurecht, weil auch uns Zeitgenossen klar wird, dass sich in Ostasien schon häufiger mächtige Zentralmächte herausgebildet hatten.
Manche Wissenschaftler und auch die Öffentlichkeit reagieren auf die tektonischen Machtverschiebungen eher überrascht. Zeugt das von einer lange gepflegten West-Orientierung?
Prof. Komlosy: Ja, eines der Hauptprobleme in der Debatte ist eine mangelnde Historizität. Man glaubt, man könne die derzeitigen Veränderungen allein auf Basis der gegenwärtigen Ausgangslage diskutieren. Wie bizarr dies ist, wird klar, wenn man die Machtverschiebungen innerhalb des Westens unter die Lupe nimmt. Zunächst war Amerika absolut marginal, lag abseits des Weltgeschehens. Erst im 20. Jahrhundert schwangen sich die USA in ihre hegemoniale Position auf, drängten Westeuropa in die zweite Reihe. Damit der Westen seine heutige Stellung erlangen konnte, musste er sich zunächt mal gegen asiatische Kompetenz durchsetzen. Viele Entwicklungsphilosophien des 19. Jahrhunderts wie der Sozialdarwinismus, ebenso der Rassismus, gingen davon aus, dass den Westen physische oder mentale Faktoren für seine Rolle prädes"tinierten. Tat"sächlich gelang es dem Westen in einer bestimmten historischen Situation, Nachteile in Vorteile zu verwandeln. Dazu bediente er sich zweier Machtmittel, die er aber heute ver"teufelt: Protektionismus im Verein mit militärischer Absicherung. Die indus"trielle Revolution, die heutzutage als spezifisches Merkmal westlicher Überlegenheit gilt, wurde nicht zuletzt forciert, um asiatische Überlegenheit bei der gewerblichen Produktion auszugleichen. Mechanisierung, staatliche In"dustrieförderung und Machtprojektion wurden konzertiert eingesetzt, um die asiatische Konkurrenz vom eigenen Markt, aber auch von deren angestammten Absatzmärkten zu verdrängen.
Was hat den Erfolg Europas bewirkt? Der Buchdruck wurde in Korea 40 Jahre vor Gutenberg erfunden, aber umwälzende Wirkung entfaltete er nur hier.
Prof. Komlosy: Einschränkend muss man zunächst sagen, dass der Zeichendruck leichter zu bewältigen ist als der mit Lettern, der Voraussetzung für den Buchdruck ist. Aber der Buchdruck ist tatsächlich einer dieser vermeintlich genuin westlichen Kompetenzen, die tatsächlich aber auch Wurzeln in Asien haben. Analoges gilt für die Textilproduktion. In Europa wurde das Spinnrad im 13. Jahrhundert erfunden. Zu diesem Zeitpunkt hatte es in China aber schon eine Jahrhunderte währende Geschichte. Und es stimmt auch nicht der oft gebrauchte Nachsatz, "sie konnten die Erfindungen nicht umsetzen." Gerade im Textilienbereich waren Asiaten sehr wohl im Stande, hochwertig und in Masse zu produzieren. Keineswegs haben westliche Handelskompanien von dort nur Gewürze und Rohstoffe importiert. Vielmehr waren dies teilweise hochwertige Gewerbeprodukte. Im Englischen steht der Begriff "China" für Porzellan. Das zeigt schon, wo damals die Überlegenheit in der Produktion gehobener Konsumgüter angesiedelt war.
Wie kam es, dass die zum Teil schon sehr alten Nationalstaaten -- anders als der Westen -- darauf verzichteten, ihre Produkte zu schützen?
Prof. Komlosy: Hier spielt zum einen die Selbstbeschränkung des Reiches der Mitte auf sich selbst eine Rolle. Die Regierung setzte ein Außenhandelsmonopol durch und beschränkte den Zutritt ausländischer Händler auf Kanton. Aufgebrochen wurde das Land im 19. Jahrhundert vom britischen Imperialismus, der sich diesen Markt nicht entgehen lassen wollte. Hier ebnete die militärische Übermacht den Händlern den Weg. Die chinesische Führung hätte sich nicht träumen lassen, in einen solchen internationalen Konflikt gezogen zu werden, nachdem sich das Land so lange dank seiner Stärke isolieren konnte. Diese Intervention löste langanhaltende Wirren aus, die im Grunde erst unter kommunistischer Herrschaft beendet wurden.
Ist eine Periodisierung der Weltgeschichte aus europäischer Sicht ohnehin verfehlt?
Prof. Komlosy: Die europäische Periodisierung der Geschichte -- also die Abfolge von Antike, Völkerwanderung, Mittelalter, Neuzeit usw. -- macht aus Sicht unseres Kontinents trotz aller der für ihn typischen regionalen Unterschiede durchaus Sinn. Sie aber anderen Regionen und Völkern überzustülpen, würde ich als europäischen Universalismus bezeichnen. Es macht wenig Sinn, anderen Völkern ein Mittelalter zu unterstellen. Politik und Wissenschaft behielten das Denkmodell des christlichen Universalismus bei: Das europäische Muster wurde anderen Völkern übergestülpt, jedes Abweichen von der europäischen Norm disqualifiziert -- entweder als Zeichen der Unterentwicklung oder -- bei Indizien von Überlegenheit beim anderen wie im Falle Chinas -- als Zeichen einer Despotie. Normalität war aus dieser Sicht das Nachahmen des europäischen Vorbildes. In der Geschichtswissenschaft schlägt sich dieses Denken in der Vorgabe bestimmter zu durchlaufender Entwicklungsstufen nieder, die wie selbstverständlich denjenigen Europas entsprechen.
Bestimmte Grundmotive beim Aufstieg und Fall großer Mächte finden sich immer wieder, etwa die Gefahr der Überdehnung. Sehen Sie da Parallelen zwischen Rom, England und den USA?
Prof. Komlosy: Ich bin skeptisch, ob man Rom in diese Reihe stellen kann. Rom war ein Imperium alter Ordnung, vergleichbar eher mit China, das sich nicht als Akteur in den internationalen Beziehungen verstanden hat, sondern als Weltreich. Zwar wissend, dass nicht die ganze Welt untertan war, dennoch wurde der Rest der Welt nur in Relation zu sich selbst definiert. Großbritannien zeigte und die USA zeigen zwar expansionistische Tendenzen, agieren aber innerhalb des internationalen Systems. Bei der zyklischen Abfolge von Hegemonialmächten -- hier gehört Rom wieder in die Reihe -- lassen sich aber immer Phasen prosperierender, expansiver Entwicklung beobachten, in denen sich die Vormächte unerschlossene Ressourcen oder die der Nachbarn aneigneten. Diese Aufschwungphasen stoßen aber immer an Grenzen, das können innere Grenzen sein -- etwa durch Verteilungskonflikte -- oder die Grenzen von Nachbarn. Diese konnten in der Situation des Bedrängtseins oft durch Innovationen Änderungen des Kräfteverhältnisses bewirken, was die typischen Auf- und Abstiegsphasen von Imperien bewirkt.
Güter, Ideen und Menschen wanderten schon in der Bronzezeit, aber lange nicht so intensiv wie derzeit. Könnte es heute zu einer Angleichung, einer Art globalen Kultur kommen?
Prof. Komlosy: Nein, das glaube ich nicht, das halte ich eher für eine Wunschvorstellung bestimmter hegemoniesüchtiger Kreise. Die Abfolge der Hegemonialmächte verläuft ja nicht nahtlos. Es sind immer nur relativ kurze Phasen, in denen Mächte unangefochten dominieren, wie Großbritannien im 19. Jahrhundert und die USA unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Sehr viel länger sind die Phasen, in denen es zu Konflikten kommt, weil Konkurrenten nach vorne drängen. Im Moment leben wir in einer Phase, in der die Hegemonie der USA längst brüchig ist, obwohl sie etwa in militärischer Hinsicht noch Bestand hat. Selbst die EU ist als Block auch eine Antwort auf den Machtanspruch der USA. In Asien formieren sich Allianzen, während China den Alleingang wählt. Ohne Krieg kam kaum ein Hegemoniewechsel aus. Derartige Konflikte sind schon zu beobachten: in Nahost und in Ostasien. China versucht sich so zu positionieren, dass es seine Rohstoffsicherung global kontrollieren kann. Die Symbiose zwischen dem Schuldner USA und seinem Kreditgeber China, die zwanzig Jahre für Stabilität sorgte, endet. Ich bin nicht so optimistisch, einen großen oder mehrere kleinere Konflikte auszuschließen, die Chaos auslösen würden, bevor sich eine neue Stabilität herauskristallisiert.
Droht zwischen dem alten Hegemon USA und dem neuen China ein ähnlicher Konflikt wie Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen England und Deutschland?
Prof. Komlosy: Ja, im Prinzip folgt die Gegenwart dem damaligen Muster: Der Newcomer Deutschland hatte versucht, sich gegenüber dem Hegemon durchzusetzen, die imperialistischen Erfolge Londons nachzuholen. Im Ergebnis waren allerdings die USA der Erbe des Hegemons. Derzeit sieht sich Peking in einer vergleichbaren Herausforderer-Rolle.
Welche Rolle wird Europa im asiatischen Jahrhundert spielen?Nur noch die der Billiglohn-Region?
Prof. Komlosy: Ich sehe für Europa eine Chance darin, wenn es seinen universalistischen Anspruch ablegt, wenn es sich eher als Provinz der Welt sieht denn als ihr führendes Zentrum. Wenn Regionalisierung eine der Folgen der laufenden Umbrüche sein wird, kann Europa mit seiner Tradition der Regionalisierung als Hochkultur bestehen bleiben und muss sich nicht als Billiglohn-Region unterwerfen. Für Europa-Pessimismus sehe ich keinen Grund.
Das Interview führte Joachim Zießler
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