Landeszeitung Lüneburg: "Ordnung in die Fluchtwellen bringen" - Grünen-Chef Robert Habeck will, dass seine Partei bald Antworten auf die großen Fragen der Zukunft liefert
Lüneburg (ots)
Ist es Augenwischerei, die Verbannung älterer Diesel aus den Städten zu ermöglichen, weil man das Weniger an Stickoxiden mit einem Mehr an CO2'' erkauft?
Robert Habeck: Fahrverbote für Diesel-Pkw werden die deutsche Klimabilanz in der Tat nicht verbessern, weil mehr Benziner in den Innenstädten den Ausstoß des Klimakillers Kohlendioxid erhöhen. Deshalb braucht es eine umfassendere Verkehrswende. Letztlich wird sich Mobilität in Zukunft weit jenseits der Frage "Diesel oder Benziner?" entwickeln. Sie muss sehr bald emissionsarm und absehbar emissionsfrei sein. Und die Art, wie wir uns von A nach B bewegen, wird sich ändern: Öffentlicher Nahverkehr und Individualverkehr werden enger verzahnt. Statt zehntausende Euro für ein neues Auto auszugeben, teilen sich jetzt schon immer mehr Leute Autos und werden dadurch unabhängiger und flexibler. Eines Tages wird man vielleicht monatliche Beiträge zahlen, um Busse, Bahnen, Pkw und E-Bikes nutzen zu können. Letztlich kann das die Kosten für die Gesellschaft und die Bürger senken.
Woran wird die Einführung einer blauen Plakette und die Nachrüstung alter Diesel mit Katalysatoren dieses Mal scheitern?
Habeck: Im Augenblick scheitert beides an der Ängstlichkeit und der Lobbyismus-Empfänglichkeit der Bundesregierung. Dabei hat sie es in der Hand, die Autohersteller zu verpflichten, Diesel nachzurüsten, und zwar auf deren Kosten, nicht auf die von Autofahrern. Das ist kein Vodoo. Geschieht nichts, ist das falsche Rücksichtnahme auf Konzerne, die wissentlich betrogen haben. Genauso die Blaue Plakette: Sie muss kommen, denn die Bundesregierung kann es nicht zulassen, dass in den Städten eine vielfarbige Plakettenarmada entsteht und jeder Autofahrer für jede Innenstadt neu eine Einfahrtserlaubnis beantragen muss.
Würden die Tricksereien der Konzerne mit Steuergeldern ausgeglichen, wäre das für die Grünen wohl die Kirsche auf der Torte?
Habeck: Das wäre ein dicker Hund. Die Autokonzerne dürfen für ihren Betrug nicht mit Steuergeld belohnt werden. Ein solcher Gedanke ist angesichts der Milliardengewinne der Konzerne mehr als befremdlich.
Was hatte Jamaika in Sachen Verkehrswende geplant?
Habeck: Ehrlicherweise muss ich sagen: Die Verhandlungen waren da sehr schwergängig. Die CSU hatte uns damals keine Bretter zum Bohren gegeben, sondern Bahnschwellen. Der damalige Verkehrsminister Alexander Dobrindt und der designierte neue, Andreas Scheuer, haben sich als auf der Seite der Automobil-Lobbyisten stehend erwiesen.
Sie haben bei den GroKo-Verhandlungen eine Leitidee vermisst. Reicht Ihnen die Verankerung des Heimatschutzes in einem Ministerium nicht?
Habeck: Nein, überhaupt nicht. Die Menschen in Deutschland und Europa spüren offenbar, dass sich die Welt gerade derart schnell wandelt, dass die alten Ordnungssysteme ins Trudeln geraten. Und viele haben das Gefühl, dass die Politik nicht mehr die Kontrolle hat. Das hat in der Flüchtlingskrise 2015 ein Bild gefunden, aber die Ursachen liegen ja viel tiefer. So stand die Politik in der Finanzkrise ohnmächtig daneben, während die Banken ihre Deals abwickelten. Ähnliches gilt für die Kriege der Welt. Wird gefragt, wie befrieden wir Syrien, zuckt die Politik mit den Achseln. Und gleichzeitig fühlen sich viele Menschen abgehängt. Ich glaube, wir müssen die Institutionen und die öffentliche Infrastruktur stärken: also Universitäten, Altenheime, Kitas, den öffentlicher Nahverkehr im Innern sowie die internationale Zusammenarbeit nach außen. Wenn man so drauf schaut, hat das durchaus etwas mit dem Begriff Heimat zu tun gehabt, verstanden als Wunsch nach Halt. Diesen Wunsch aber in eine neue Abteilung im Innenministerium zu übersetzen, veralbert das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung.
Wie hätten die Grünen in einer Jamaika-Konstellation Orientierung gegeben über die Stärkung der Institutionen hinaus?
Habeck: Wir brauchen ein neues Garantieversprechen für den Sozialstaat. Ein gutes Beispiel ist die Kinderarmut. Viele nehmen nicht mal ihre Rechte wahr und beantragen die Kinderzulage. In Jamaika hätten wir es immerhin geschafft, dass diese automatisch ausgezahlt werden sollte. Aber das ist nur ein Schritt. Menschen in besonders sensiblen Lebenslagen - im Alter, während der Ausbildung oder der Kinderzeit - sollten das, was man fürs Leben wirklich braucht, als Garantieleistung direkt ausgezahlt bekommen - etwa eine Kindergrundsicherung. Das schafft eine Grundsicherheit - bei allen Unwägbarkeiten des Lebens - und wahrt die Würde. Dazu ist es unsere Aufgabe, gerade als eine Partei, die sich stark der Humanität verpflichtet fühlt, Ordnung in die Fluchtwellen zu bringen. Damit Kommunen planen können, wie viele Kita-Plätze sie bereithalten müssen. Wir können es hinkriegen, eine weltoffene Gesellschaft mit einer geregelten Zuwanderung und einer gesteuerten Integration zu versöhnen.
Union und SPD gehen mit deutlichem Überdruss in die GroKo. Sollten sie dies nach außen deutlicher machen, um das Murren ihrer Anhänger zu dämpfen?
Habeck: Viel deutlicher können Union und SPD nicht machen, dass sie eigentlich miteinander fertig sind. In einem gewissen Sinne tun mir beide leid. Sie haben keinen Bock mehr aufeinander. Die Flucht der SPD in die Opposition war mehr als verständlich. Nun muten sie sich diesen Tort zu. Da habe ich durchaus Respekt davor. Dennoch ist es kläglich, große Verhandlungserfolge zu behaupten, obwohl man weder Familiennachzug - also die Zusammenführung von durch Krieg und Flucht zerrissenen Familien - noch die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung noch die Bürgerversicherung erreichen konnte.
Am Wochenende wählt Italien, ein Rechtsruck wird befürchtet. Haben Jamaika und GroKo das schmale Zeitfenster bereits geschlossen, das Macron mit seinem EU-Reform-Vorstoß aufgestoßen hat?
Habeck: Das hoffe ich nicht. Macron hat Recht damit, dass nur Veränderung Sicherheit bringt. Europa muss solidarischer werden, wenn es zusammenhalten soll. Weg von den nationalen Egoismen, hin zu einer wirklichen europäischen Gemeinschaft. Zu einem Europa, das seine Bürger schützt. Dahin zu kommen ist gerade alles andere als leicht. Aber die Europawahl nächstes Jahr ist die Chance dafür.
In den wenigen Wochen unter dem Duo Baerbock/Habeck haben die Grünen bereits die alten Zöpfe Trennung von Amt und Mandat sowie Flügelproporz in der Spitze gekappt. Was steht als Nächstes an?
Habeck: Das waren bisher nur Formalien. Im April starten wir mit unserem auf zwei Jahre angelegten Prozess für ein neues Grundsatzprogramm. Wir wollen die Zeit nutzen, um die wirklich großen Fragen zu stellen, ohne dass wir jetzt wissen, in welche Welt unsere Antworten in zwei Jahren fallen werden. Fragen wären etwa: Wo sollen die ethischen Grenzen für künstliche Intelligenz liegen? Wie ähnlich dürfen Roboter uns sein? Wo ziehen wir angesichts der Möglichkeiten und der Gefahren der Gentechnik und der Reproduktionstechnologien die Grenzen? Wenn der Druck der Robotik auf die Arbeit anhält, muss dann nicht die Abgabenlast von der Arbeit weg? Brauchen wir eine Robotersteuer? Wie können umweltschädliche Industrien für die Umweltschäden zahlen statt subventioniert zu werden?
Bisher ist der Erfolg der Grünen eng an den Wohlstand der Bürger gekoppelt. Je gesicherter die Menschen leben, desto höher der Stimmenanteil. Warum wird die Partei nicht von denen gehört, die sich abgehängt fühlen?
Habeck: Das liegt vor allem an unserem Image. Also: irgendwie kulturell anders zu sein, anders zu sprechen, anders zu essen, veganen Milchschaum zu bevorzugen. Dabei sind wir vom Programm schon jetzt keine klassische Klientelpartei, die die egoistischen Ansprüche ihrer Mitglieder befriedigt. Wir haben in vielem - bei Steuern, Kindergrundsicherung, Pflege, unseren Ideen für eine starke öffentliche Infrastruktur - Antworten für die Breite der Gesellschaft. Und auch die ökologische Frage ist eine soziale. Wer wohnt denn an den Straßen mit schlechter Luft? Wohl nicht die SUV-Fahrer mit Villa. Aber unsere Aufgabe ist es, noch stärker in die Gesellschaft hineinzuwirken. Aus meinen fast sechs Jahren als Minister im auch ländlichen Schleswig-Holstein ziehe ich dafür Optimismus. In den Jahren ist auf Seiten derer, die von unserer Politik betroffen sind, die Wertschätzung gewachsen. Weil wir rausgegangen sind, die Probleme ernst genommen und nach Lösungen gesucht haben. Ich hoffe, die Fischer, deren Fanggebiete, Netzlängen und Fangquoten ich reduziert habe, werden sagen, mit dem Habeck konnte man trotzdem reden, der hat Wort gehalten. Ähnliches gilt hoffentlich für Landwirte, Jäger und Küstenschützer. Die Chance besteht darin, nahbar zu sein, indem man aus dem Elfenbeinturm Politik herauskommt. Wahrscheinlich bringt es für uns in Ostdeutschland nichts, mit Lautsprechern von der Marktplatzbühne runterzurufen. Stattdessen sollten wir im Wahlkampf über die Dörfer tingeln, um am Gartenzaun zu schnacken. So könnte gegenseitiger Respekt entstehen. Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell