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Ein Gigant
Kommentar von Jens Kleindienst zum Tod von Wolfgang Schäuble

Mainz. (ots)

Einundfünfzig Jahre hat Wolfgang Schäuble als Abgeordneter für die CDU im Bundestag gesessen, eine unfassbar lange Zeit. 1972, als er das erste Mal für seinen Wahlkreis Offenburg ins Parlament gewählt wurde, stritt Deutschland gerade über die Ostpolitik des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt. Knapp zwanzig Jahre später wurde Schäuble zum Architekten der deutschen Einheit, es folgten Jahrzehnte in politischen Spitzenämtern, zuletzt gab Schäuble bis 2021 als Bundestagspräsident dem Hohen Haus die nötige Würde.

Und doch ist Wolfgang Schäuble ein Unvollendeter geblieben. Zwar war er neben Helmut Kohl der einflussreichste deutsche Politiker der vergangenen 40 Jahre, zwei der höchsten Staatsämter blieben ihm aber verwehrt. 2004 wäre Schäuble gerne Bundespräsident geworden, doch die damalige Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel schickte lieber Horst Köhler ins Rennen, um der FDP einen Gefallen zu tun.

Schäubles eigene Kanzlerschaft hatte Helmut Kohl sechs Jahre davor vereitelt: Statt nach 16 Jahren Platz zu machen für den fälligen Generationswechsel, führte der Pfälzer die Union 1998 lieber in den Machtverlust. Schäuble hatte damals nicht den politischen Mut, rechtzeitig aufzubegehren. Oder besser: Seine Loyalität verbot es ihm. Kohls Dank bestand darin, dass er später in der CDU-Spendenaffäre jede Aufklärung verweigerte und damit letztlich zum Abgang Schäubles als CDU-Vorsitzender beitrug. Das zum Ende völlig zerrüttete Verhältnis zu Helmut Kohl blieb eine der großen Enttäuschungen im politischen Leben Schäubles.

Ein Politiker, der es allen recht machen wollte, war Schäuble nie. Am Rednerpult im Bundestag konnte er polemisch und verletzend sein - auch deshalb war er ein blendender Oppositionsführer. In seinen späten Jahren betonte Schäuble dann eher das Verbindende der Demokraten, als Bundestagspräsident setzte er den Ton für den Umgang mit den Abgeordneten der AfD. Mit einer eher leisen Rede hatte Schäuble 1991 bewiesen, was Worte bewirken können: Als es um die Frage ging, ob der Sitz des Bundestags von Bonn nach Berlin verlegt werden soll, war er es, der mit seinem Debattenbeitrag das Blatt zugunsten Berlins wendete.

Als Verhandler agierte Schäuble hartnäckig bis unerbittlich - und damit meist höchst erfolgreich. Der Vertrag zur deutschen Einheit bleibt sein Meisterstück und Vermächtnis. Helmut Kohl mag der Vater der Einheit sein, von Wolfgang Schäuble stammt der Bauplan. Im Vertrag spiegelt sich auch das damalige Machtgefälle zwischen einer starken Bundesrepublik und einer ihrem Ende entgegen taumelnden DDR. Schäuble hat dieses Machtgefälle in Paragrafen gegossen. Die Auswirkungen waren nicht nur positiv: Vieles, was in den Folgejahren zwischen Ost- und Westdeutschen schiefgelaufen ist, hatte auch mit dem Unterlegenheitsgefühl zu tun, das der Vereinigungsprozess bei vielen Neu-Bundesbürgern hinterließ.

Schäubles Unerbittlichkeit bekamen 20 Jahre später die Griechen zu spüren, als der deutsche Finanzminister sie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mit einem "Isch over" aus dem Euro werfen wollte. Angela Merkel fiel Schäuble damals in den Arm, dieser nahm es hin - und diente seiner Kanzlerin weiterhin loyal.

Dass Schäuble überhaupt so lange die deutsche Politik prägte, bleibt ein Wunder. Am 12. Oktober 1990 hatte ein psychisch Kranker ihn bei einem Wahlkampfauftritt niedergeschossen. Schäuble überlebte nur knapp, saß fortan im Rollstuhl und hatte immer wieder mit schweren gesundheitlichen Spätfolgen zu kämpfen. Das hat ihn nie daran gehindert, weiter Politik zu machen. Sein offensiver Umgang mit der Querschnittslähmung und seine Willenskraft haben Millionen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen unendlich viel Mut gemacht. Auch das gehört zum Vermächtnis dieses politischen Giganten.

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