Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Hartz IV:
Bielefeld (ots)
Ein Kompromiss war im alten Rom eine einfache Sache. Zwei Streithähne versprachen sich gegenseitig, den Schiedsspruch eines Dritten zu akzeptieren. Stand eine Seite hinterher doch nicht zu ihrem Wort, waren die hinterlegten Denare futsch. Die langwierige Nachbesserung von Hartz-IV-Leistungen an Vorgaben des Verfassungsgerichts ist dagegen kein klassischer Kompromiss, weil weit komplizierter als zu Ciceros Zeiten. Vor allem fehlt der Schiedsmann. Deshalb urteilen über die hoffentlich endgültig erreichte Einigung selbst die beteiligten Parteien. Zweites Problem: Unterhändler wie Unbeteiligte einigt die Grundhaltung gemeiner Gutmenschen, wonach etwas mehr von allem noch besser gewesen wäre. Auf der Strecke bleibt dabei die Stimme der Vernunft. Hinweise auf die Grenzen sozialstaatlicher Leistungsfähigkeit sind unerwünscht, schließlich will niemand als unsozial dastehen - auch wenn mal eben vier Milliarden Euro fällig sind. Wer den Kompromiss wirklich beurteilen will, muss sich auf Details einlassen. Und die sind umfangreich, gar nicht billig und in der Summe eine echte Verbesserung für die Betroffenen. Fünf plus drei Euro mehr: Wer den Kompromiss zwischen Regierung und Teilen der Opposition auf diese Formel verkürzt, übersieht ein ziemlich dickes Paket mit Extras. Allein die Bildungs- Kita- und Schulmaterialzuschüsse für Kinder sowie die Übernahme der Grundsicherung im Alter durch den Bund stellen eine erhebliche Entlastung für die Kommunen da. Von dort war gestern übrigens einer der wenigen uneingeschränkten Lobgesänge zu hören. Städte und Gemeinden können jetzt für Kinder aus Hartz-IV-Familien und anderen Geringverdiener-Haushalten eine eigenes kleines Sozialprogramm fahren. Statt der Chipkarte von Ursula von der Leyen bieten und organisieren die Kommunen die Bezahlung von Schulessen, Vereinssport, Musik und Nachhilfe. Auch der Zuschuss zur Klassenfahrt kommt demnächst aus dem Rathaus - statt vom Förderverein der jeweiligen Schule. Obwohl vom Verfassungsgericht gar nicht verlangt, konnte die SPD darüber hinaus Eingriffe in die Tarifautonomie durchsetzen und Regelungen für Leiharbeiter und zum Mindestlohn aushandeln. Auffällig war gestern, dass kaum noch einer in das Karlsruher Urteil vom 9. Februar 2010 blickte. Danach waren die Regelleistungen für Hartz-IV-Empfänger »nicht als evident unzureichend«, also zulässig, erklärt worden. Bemängelt wurde lediglich deren nicht nachvollziehbare Berechnung. Das wurde jetzt wieder versäumt. Dennoch gibt es kaum Grund zur Sorge. Auch im nächsten Verfahren werden die Richter feststellen, dass Hartz-IV-Empfänger weder hungern noch unter der Brücke schlafen müssen. Der Frage nach dem Berechnungsweg kann Berlin ertragen. Denn: Das Gesamtpaket mit seinen sozialpolitischen Nachbesserungen kann sich sehen lassen - bei den Bedürftigen und vor Gericht.
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