Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Abitur nach acht Jahren
Bielefeld (ots)
In Bayern können Gymnasiasten jetzt freiwillig sitzenbleiben. Sie schieben auf eigenen Wunsch ein zusätzliches Schuljahr zwischen die Klassen 9 und 10. Dann erhalten sie das Zeugnis der Reife erst nach neun Jahren am Gymnasium statt wie neuerdings schon nach acht Jahren. Bayerische Politiker haben diesen skurrilen Einfall »Flexibiliserungsjahr« getauft. Aber wozu soll das gut sein? Es bringt Wählerstimmen. 2013 sind Landtagswahlen in Bayern, und die Eltern zwischen Coburg und Garmisch-Partenkirchen sind mit der von München verfügten Verkürzung von neun (G9) auf acht (G8) Gymnasialjahre höchst unzufrieden. Also gibt man ihnen, was sie wollen: ein zusätzliches Schuljahr, das dabei hilft, den Lernstress zu mindern. Gleichzeitig wahrt die Politik ihr Gesicht: Offiziell gilt ja weiter ihr schöner G8-Beschluss. Rechnen wie die Bayern: 8 + 1 = 8. Nützt diese Mathematik den Schülern? Bildungsexperten sagen: nein. Sie behaupten, seit dem G8-Beschluss 2004/05 hätten sich die Rahmenbedingungen nicht geändert, die seinerzeit für die G8-Reform sprachen - also warum sollte sich jemand das alte G9 zurückwünschen? Simple Antwort: Die Argumente, die damals vorgetragen wurden, kamen nicht aus der Pädagogik, sie kamen aus der Wirtschaft. Der Arbeitsmarkt verlange frühere Abschlüsse, er brauche jüngere Einsteiger ins Erwerbsleben. Der Hessische Unternehmerverband ging so weit, den Nutzen für die Unternehmen zu beziffern: Der um ein Jahr vorgezogene Berufsstart bringe der Firma pro Kopf 50 000 Euro. Aus der Schulzeit ist Geldzeit geworden. Der junge Mensch wird nicht mehr nach seinen charakterlichen und sozialen Fähigkeiten beurteilt, sondern nach seinem Gegenwert in Euro und Cent. Sein Weg zur Reife wird beschnitten, denn wer interessiert sich schon für Reife, wo Bilanz und Gewinn allein selig machen? Aber Abitur soll er haben, der junge Mitarbeiter. Also wird das Gymnasium als Gesamtschule für alle missbraucht, also fordert man eine abenteuerliche Akademikerquote. Es hat Zeiten gegeben, da schafften zwei Prozent der Jugend das Abitur, heute ist man mit 30 Prozent nicht zufrieden. Dümmer war das Volk damals allerdings nicht . . . Die Experten aber werden wolkig, sobald man Lösungsvorschläge erbittet. Den »Biorhythmus für den Unterricht ändern«, heißt es dann - als könne der Pädagoge nach Belieben in biologischen Konstanten herumfuhrwerken. Geld für eine bessere Ganztagsschule hat der Staat auch nicht. G8 wurde durch die politischen Gremien gepeitscht, ohne ein pädagogisches Konzept zu haben. Also zurück zu G9? Die Idee klingt verlockend. Allerdings verflüchtigt sich ihr Zauber, sobald man sich klarmacht, dass einst G9 ebenjene Entscheider hervorbrachte, die jetzt hilflos an der Zukunft der deutschen Bildung herumdoktern.
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