Bundestags- und Landtagsabgeordnete kassieren rund 5,5 Millionen Euro rechtlich fragwürdige Zulagen
"Report Mainz", 7.3.17, 21.45 Uhr im Ersten
Mainz (ots)
Bundesweit kassieren Bundestags- und Landtagsabgeordnete zusätzlich zu ihren gesetzlichen Diäten jährlich insgesamt rund 8,7 Millionen Euro durch Zulagen, davon rund 5,5 Millionen Euro durch rechtlich fragwürdige Zulagen. Das berichtet das ARD-Politikmagazin "Report Mainz" (heute, 7.3.17, 21.45 Uhr im Ersten) unter Berufung auf eine Umfrage bei allen vier Fraktionen im Bundestag und bei allen 64 Landtagsfraktionen der Vollzeitparlamente in den Flächenländern sowie eine Auswertung von Rechenschaftsberichten der Fraktionen.
Danach zahlen allein die Bundestagsfraktionen rund 2,5 Millionen Euro jährlich an rechtlich fragwürdigen Funktionszulagen etwa für stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Arbeitsgruppensprecher, Landesgruppensprecher oder Vorsitzende von sozialen Gruppen in der Fraktion. Die Landesparlamente von Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt geben insgesamt jährlich rund 3 Millionen Euro an rechtlich zweifelhaften Funktionszulagen etwa für stellvertretende Fraktionsvorsitzende oder Arbeitsgruppensprecher aus. Nur in Thüringen, Schleswig-Holstein und Hessen gibt es solche Zulagen nicht. Wie Verfassungsrechtler Prof. Hans Herbert von Arnim in seiner aktuellen Studie "Die Hebel der Macht und wer sie bedient" und im Interview mit "Report Mainz" darlegt, sind diese Funktionszulagen verfassungswidrig.
Diese Funktionszulagen in Höhe von rund 5,5 Millionen Euro stehen demnach im Widerspruch zum so genannten "Zweiten Diätenurteil" des Bundesverfassungsgerichts. In diesem Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht am 21. Juli 2000 (2 BvH 3/91) nur die Funktionszulagen für Fraktionsvorsitzende für rechtmäßig erkannt. Für alle anderen Funktionszulagen hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt: "Ergänzende Entschädigungen für die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden (...) und für die Ausschussvorsitzenden sind (...) mit dem Verfassungsrecht unvereinbar." Solche Zulagen "verstoßen gegen die Freiheit des Mandats und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten". Das Urteil sei zwar für Thüringen ergangen, doch das Bundesverfassungsgericht hat seitdem mehrfach betont (u. a. 27.11.2007, 2 BvK 1/03), es seien damit "allgemeine Maßstäbe" aufgestellt, die für alle Parlamente auf allen Ebenen gelten. Das Gericht hatte gewarnt, dass durch die systematische Ausdehnung von Funktionszulagen "Abgeordnetenlaufbahnen" und "Einkommenshierarchien" geschaffen würden, die der Freiheit des Mandats schadeten. In ergänzender Rechtsprechung erkannte das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein 2013 auch die Zulagen für Parlamentarische Geschäftsführer als rechtmäßig.
Verfassungsrechtler Prof. Hans Herbert von Arnim wirft den Fraktionen im Interview vor, sich seit nunmehr 17 Jahren über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinwegzusetzen. Wörtlich sagte er in "Report Mainz": "Hier werden Millionen Steuergeld verfassungswidrig verausgabt und das trotz einer klaren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist ein Verfassungsbruch - und dies von den höchsten deutschen Instanzen, den Parlamenten."
Auch der Präsident des Landesrechnungshofs Thüringen, Bundesrichter a. D. Sebastian Dette, kritisierte in "Report Mainz", dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den meisten Parlamenten nicht beachtet wird. Er hatte mit einem Gutachten dafür gesorgt, dass die rechtlich fragwürdigen Funktionszulagen 2015 in Thüringen abgeschafft wurden. Im Interview sagte er: "Das war durchaus schwierig, die Parlamentarier davon zu überzeugen. Es gab erhebliche Gegenwehr der Fraktionen. Sie haben zahlreiche Argumente vorgetragen, sogar das Gegengutachten eines renommierten Professors vorgelegt. Mit diesen Argumenten habe ich mich intensiv auseinandergesetzt und bin zu dem Ergebnis gelangt, dass Funktionszulagen rechtswidrig sind. Auf Grund meines Gutachtens wurde die Zahlung der Funktionszulagen eingestellt und der Landtag hat ein Gesetz erlassen, das künftig die Zahlung von Funktionszulagen verbietet." Auch die Landesrechnungshöfe von Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt haben die fragwürdige Zulagenpraxis in Prüfungen bereits kritisiert und Änderungen angemahnt.
Bundestag
85 Bundestagsabgeordnete profitieren nach Recherchen von "Report Mainz" von den rechtlich zweifelhaften Zusatzzahlungen. Sie erhalten als stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Arbeitsgruppensprecher, Landesgruppensprecher oder Vorsitzende von sozialen Gruppen in der Fraktion und auch in weiteren Ämtern so genannte Funktionszulagen aus den Budgets der Bundestagsfraktionen zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Diät von mehr als 9.000 Euro. Nimmt man die - rechtlich unproblematischen - Funktionszulagen für Fraktionsvorsitzende und Parlamentarische Geschäftsführer hinzu, sind insgesamt 104 Abgeordnete im Bundestag Zulagenempfänger. Die Summe aller im Bundestag gezahlten Funktionszulagen betrug 2015 insgesamt rund 3,5 Millionen Euro, davon sind etwa 2,5 Millionen Euro rechtlich fragwürdig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD verweigern auf Anfrage jede Information, welche Zulage in welcher Höhe für welche Funktionen gezahlt wird. Die meisten Zulagen zahlt die CDU/CSU-Fraktion, hier profitieren 48 Abgeordnete von rund 1,7 Millionen Euro. Die SPD-Fraktion vergütet 43 Abgeordnete mit rund 1,4 Millionen Euro für die Wahrnehmung von Funktionen innerhalb der Fraktion. Die Fraktion von B'90/Die Grünen zahlt Zulagen in Höhe von insgesamt rund 340.000 Euro an elf Abgeordnete, die Linksfraktion zahlt rund 109.000 Euro an zwei Abgeordnete.
Länder
Nordrhein-Westfalen liegt bundesweit an der Spitze, was die Höhe der Funktionszulagen angeht. Hier werden jährlich insgesamt 1,2 Millionen Euro an Zulagen verausgabt, mehr als 640.000 Euro davon entgegen den Grundsätzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. In Bayern zahlen die Fraktionen jährlich rund 974.000 Euro, davon sind etwa 560.000 Euro an Zulagen für Empfänger bestimmt, die das Bundesverfassungsgericht von der Gewährung solcher Zulagen ausgenommen hatte. Niedersachsen zahlt im Jahr rund 801.000 Euro, davon 474.000 Euro entgegen dem Urteil der Verfassungsrichter. In Baden-Württemberg wurden rund 542.000 Euro entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gezahlt.
Die Bundestagsfraktionen verteidigen die Zahlungen u. a. mit dem Hinweis auf ein Gutachten der "Schmidt-Jortzig-Kommission", die der Praxis der Funktionszulagen zugestimmt habe. Die Landtagsfraktionen verweisen zudem auf Rechtsgutachten von Prof. Udo Steiner im Auftrag des Bayerischen Landtags und Prof. Michael Brenner im Auftrag der CDU in Thüringen. Verfassungsrechtler Prof. Hans Herbert von Arnim erklärt dazu im Interview mit "Report Mainz": "Ich habe mich in meiner aktuellen Analyse derartiger Funktionszulagen mit der gesamten Rechtsprechung und Literatur zu diesem Thema auseinandergesetzt. Mein Fazit ist, dass derartige Funktionszulagen verfassungswidrig sind, weil sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diametral zuwiderlaufen." Weiter sagt er: "Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eindeutig. Das Gericht hat sie auch mehrmals bestätigt. Auch wenn in den Landtagen darüber zu urteilen ist, müssen die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt werden. Die Autoren, die anderer Auffassung sind, sind regelmäßig Angestellte oder sonstige Bedienstete von Parlament oder Fraktionen oder sie machen Gutachten für sie und verdanken den Parteien auch sonst einiges." Auch der Thüringer Landesrechnungshofspräsident Sebastian Dette sagte im Interview mit "Report Mainz": "Alle diese Argumente haben der Überprüfung nicht standgehalten. Das Ergebnis lautet, dass Funktionszulagen rechtswidrig sind."
Zitate gegen Quellenangabe "Report Mainz" frei. Weitere Informationen auf www.reportmainz.de. Pressekontakt: "Report Mainz", Tel. 06131/929-33351.
Original-Content von: SWR - Das Erste, übermittelt durch news aktuell