KORREKTUR
122. Deutscher Ärztetag
Mit Maß und Mitte statt direktiv und dirigistisch
Berlin (ots)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
aufgrund einer Korrektur im letzten Absatz bitten wir darum, diese Fassung unserer gestrigen Pressemitteilung zu verwenden.
Mit freundlichen Grüßen
Pressestelle der deutschen Ärzteschaft
Der 122. Deutsche Ärztetag in Münster hat in seiner gesundheits- und sozialpolitischen Generalaussprache den Leitantrag des Bundesärztekammer-Vorstands mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Der Beschluss im Wortlaut:
Die Basis des ärztlichen Handelns ist die ärztliche Ethik auf der Grundlage des Genfer Gelöbnisses. Ärztliche Selbstverwaltung ist Ausdruck ärztlicher Freiberuflichkeit. Einschnitte in die Selbstverwaltung sind deshalb immer auch Einflussnahmen auf die freiheitliche Berufsausübung. Der 122. Deutsche Ärztetag 2019 fordert die Bundesregierung auf, die in ihrem Koalitionsvertrag festgeschriebene Stärkung der Freiberuflichkeit zur Richtschnur ihres politischen Handelns zu machen. Dirigistische Eingriffe, wie die Neuregelungen zu Mindestsprechstundenzeiten und offenen Sprechstunden im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) lassen vor allem junge Ärztinnen und Ärzte von einer Niederlassung absehen und verkehren die Ziele des Gesetzes in ihr Gegenteil. Direktiven, wie die zur Verstaatlichung der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik), drängen diejenigen an den Rand, die tagtäglich mit digitalen Anwendungen arbeiten. Auch die angestrebte ministerielle Einflussnahme auf die Gestaltung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist nichts anderes als Staatsbürokratismus. Dieser schwächt die Arbeit der Selbstverwaltung und stellt die wissenschaftliche Evidenz als wesentliche Grundlage einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung sowie des Patientenschutzes infrage. Einflussnahmen auf die Arbeit der Selbstverwaltung sowie auf die individuelle Berufsausübung von Ärztinnen und Ärzten sind kontraproduktiv und inakzeptabel.
Interprofessionelle Kooperation statt Deprofessionalisierung des Arztberufes
Die Ärzteschaft unterstützt und fördert die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen bei klaren Verantwortlichkeiten. Sie lehnt aber politische Bestrebungen ab, aus vornehmlich ökonomischen Gründen originäre ärztliche Aufgaben und Tätigkeiten auf nichtärztliche Gesundheitsberufe zu verlagern. Das gefährdet die Sicherheit der Patientinnen und Patienten und führt zu einer schleichenden Deprofessionalisierung sowie Entwertung des Arztberufes. Daher betrachtet die Ärzteschaft mit großer Sorge, dass derzeit gleich mehrere aktuelle Gesetzesinitiativen diese Entwicklung befördern. Erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht unter anderem an dem Ausbildungsreformgesetz für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Der Entwurf fokussiert nicht auf eine Lösung der Ausbildungsproblematik. Vielmehr führt er zu weitreichenden und für die Patienten nachteiligen Änderungen bei der Qualifizierung dieser Berufsgruppen sowie zu einer Schwächung der speziellen fachärztlichen psychotherapeutischen Versorgung. Weitere Beispiele sind die aktuellen Gesetzesinitiativen für Ausbildungsreformen bei Gesundheitsfachberufen sowie die geplante Ausweitung des Impfrechts auf Apotheker. Der 122. Deutsche Ärztetag stellt klar: Der Vorbehalt der Ärzte für Diagnose, Indikationsstellung und Therapie ist unverzichtbar. Statt parallele Versorgungsstrukturen zu etablieren sind Berufs- und Kooperationskonzepte zu fördern, die einerseits zur Professionalisierung der Gesundheitsfachberufe und andererseits zur Unterstützung und Entlastung des Arztes im Sinne des Delegationsprinzips beitragen. Auch Bestrebungen, wie im Entwurf eines Digitalisierungsgesetzes vorgesehen, die gesetzlichen Krankenkassen als Gestalter von innovativen Versorgungsprozessen zu etablieren, damit diese digitale Innovationen zu diagnostischen Feststellungen entwickeln, werden strikt zurückgewiesen.
Sektorenübergreifende Kompetenz statt Konkurrenz der Sektoren
Eine bessere Vernetzung der Versorgungsbereiche ist wesentliche Voraussetzung für ein stärker patientenzentriertes Gesundheitswesen in Deutschland. Dringend erforderlich sind Konzepte für eine moderne sektorenübergreifende Versorgungsplanung unter Berücksichtigung regionaler Strukturen. Unabdingbar ist ferner eine personelle und digitale Verknüpfung der Sektoren durch neue interprofessionelle und intersektorale Kooperationsmodelle. Dazu zählen neben der sektorenübergreifenden Neustrukturierung der Notfallversorgung zum Beispiel verstärkte ärztliche Kooperationen in Praxisnetzen unter Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe und des stationären Sektors, die Intensivierung der Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten mit Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten sowie der Ausbau fachärztlicher Satellitenpraxen mit wechselnder Besetzung. Notwendig sind zudem die Überführung telemedizinischer sektorenübergreifender Angebote in die Regelversorgung sowie deutlich erhöhte Investitionen für Umstrukturierungen, neue Technologien und Digitalisierung. Gefragt sind praxistaugliche Lösungen, die von Patienten und Gesundheitsberufen gleichermaßen angenommen werden. Der 122. Deutsche Ärztetag erneuert deshalb seine Forderung, die Organisationen der ärztlichen Selbstverwaltung eng in die Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Sektorenübergreifende Versorgung" einzubinden. Vor allem die sektorenübergreifende Kompetenz der Ärztekammern ist hierbei stärker einzubeziehen.
Investitionen in die Zukunft statt Gesundheitsversorgung nach Haushaltslage
Zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehört die Gewährleistung einer wohnortnahen und hochwertigen medizinischen Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger. Um ihrer Verpflichtung zur Daseinsvorsorge nachkommen zu können, müssen Bund und Länder die dafür notwendigen infrastrukturellen und personellen Voraussetzungen schaffen. Vor diesem Hintergrund fordert der 122. Deutsche Ärztetag die Länder mit Nachdruck auf, endlich in vollem Umfang ihren Investitionsverpflichtungen für den stationären Bereich nachzukommen und die Investitionslücke allein in den letzten beiden Jahren von jeweils 3,7 Milliarden Euro zu schließen. Notwendig sind grundlegende Änderungen der Krankenhausfinanzierungssystematik. Die Ärzteschaft begrüßt die von der Bundesregierung vorgenommene Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus der bisherigen Krankenhausfinanzierung. Zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung muss Gleiches für Ärztinnen und Ärzte sowie für alle in den Kliniken tätigen Gesundheitsberufe gelten. Zudem muss die Problematik der Versorgungsengpässe bei bestimmten Arzneimitteln bzw. Wirkstoffen effizient und langfristig gelöst werden. Als wesentlichen Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge sieht die Ärzteschaft zudem die Förderung des ärztlichen Nachwuchses. Der 122. Deutsche Ärztetag fordert die Bundesländer auf, die finanziellen Mittel für eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze in der Humanmedizin um bundesweit mindestens zehn Prozent bereitzustellen. Daneben sind die im Masterplan Medizinstudium 2020 aufgeführten Reformmaßnahmen vollständig und bundesweit umzusetzen.
Wahlfreiheit statt Monopolbildung
In der Gesundheitsversorgung ist wirtschaftliches Handeln geboten. Dabei muss aber die Ökonomie den Zielen der Medizin dienen - und nicht umgekehrt. Vor diesem Hintergrund betrachtet die Ärzteschaft mit großer Sorge, dass neben zahnmedizinischen Versorgungszentren zunehmend ambulante ärztliche Einrichtungen in den Fokus fachfremder Investoren und Spekulanten rücken. Eine qualitativ hochwertige Versorgung in Stadt und Land erfordert, dass Monopole durch Konzernbildung in der ambulanten Versorgung vermieden und der freiberufliche Charakter der ärztlichen Tätigkeit sowie die Wahlfreiheit der Patienten erhalten werden. Der 122. Deutsche Ärztetag fordert die Bundesregierung auf, über die bereits mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz geschaffenen Regelungen hinaus, Maßnahmen zur Eindämmung von Übernahmen und Marktbeherrschung in diesem Bereich zu veranlassen. Zu prüfen ist unter anderem, die Größe und den Versorgungsumfang von medizinischen Versorgungszentren (MVZ) zu begrenzen und die MVZ-Gründung durch Krankenhäuser an einen fachlichen und räumlichen Bezug zum Versorgungsauftrag zu koppeln. Auch sollten Anträge auf Zulassung sowie auf Anstellung eines Arztes dann abgelehnt werden, wenn das MVZ eine marktbeherrschende Stellung erlangt. Außerdem gilt es, Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge mit externen Kapitalgebern zu unterbinden.
Wissenschaftsorientierung des Medizinstudiums statt Infragestellen der wissenschaftlichen Basis
Die Ärzteschaft begrüßt grundsätzlich die Intention des Masterplans Medizinstudium 2020, den Praxisbezug von Beginn des Studiums an zu stärken. Dies darf jedoch nicht zu Lasten der Wissenschaftsorientierung des Medizinstudiums gehen. Die Ärzteschaft spricht sich daher dafür aus, Praxisorientierung und Wissenschaftlichkeit nicht als Gegensatz, sondern als essenzielle und komplementäre Bestandteile einer modernen ärztlichen Ausbildung zu verstehen. Die Vermittlung wissenschaftlicher Kompetenzen hat funktionale Bedeutung für die Versorgungsqualität, da angehende Ärztinnen und Ärzte angesichts der rasanten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte in der Medizin mehr denn je auf die Befähigung zu wissenschaftlichem und evidenzbasiertem Denken und Handeln angewiesen sind. Die Ärzteschaft stellt sich damit auch jeder Überlegung aus Politik und Fachgesellschaften entgegen, die aufgrund des Arztmangels die wissenschaftliche Grundlage des Arztberufes in Frage stellen. Folglich unterstützt die Ärzteschaft mithin auch die Forderung, dass die wissenschaftliche Ausrichtung des Medizinstudiums in der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄAppO) verbindlich festgehalten werden sollte, indem dort die Vermittlung der wissenschaftlichen methodischen Basis der Medizin als gleichberechtigtes Ausbildungsziel des Studiums definiert wird. Die auf Fakultätsebene zu entwickelnden Curricula sollten dem dadurch Rechnung tragen, dass die grundlegenden Kompetenzen (wie etwa Evidenzbewertung, medizinische Ethik, ärztliche Kommunikation usw.) generell frühzeitig und longitudinal und für alle Studierenden gleichermaßen verbindlich im Medizinstudium verankert werden. Ohne wissenschaftliche Grundlage ist eine evidenzbasierte Medizin mit individuell auf den einzelnen Patienten angepasster Versorgung nicht möglich. Hierzu erfordert die notwendige Breite des Wissens auch in Zukunft zunächst ein gemeinsames Studium für alle zukünftigen Ärztinnen und Ärzte. Die notwendige Spezialisierung kann erst Gegenstand der sich daran anschließenden Weiterbildung sein.
Verlässliche Mittelverwendung statt GKV-Verschiebebahnhöfe
Die Gesundheits- und Sozialsysteme dürfen nicht der politischen Beliebigkeit unterliegen. Die Ärzteschaft lehnt deshalb Überlegungen strikt ab, die gesetzliche Krankenversicherung einmal mehr als sozialpolitischen Verschiebebahnhof zu missbrauchen und die aus der Einführung einer Grundrente resultierenden finanziellen Belastungen durch Griffe in die GKV-Beitragstöpfe zu kompensieren. Ein solcher Schritt würde massiv das Vertrauen der gesetzlich Krankenversicherten in eine angemessene Mittelverwendung stören. Vor allem aber wäre er angesichts der demografiebedingten Herausforderungen für das Gesundheitswesen politisch nicht zu rechtfertigen. Der 122. Deutsche Ärztetag fordert: Die Finanzierung von Gesundheitsleistungen darf nicht weiter durch "Verschiebebahnhöfe" infrage gestellt werden. Demografischer Wandel und medizinischer Fortschritt sind grundlegende Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens und erfordern Versorgungsstrukturen, die nachhaltig und stabil zu finanzieren sind. Der Referentenentwurf zum Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) enthält den Passus, dass die gesetzlichen Krankenkassen künftig zwei Prozent ihrer Finanzreserven in Wagniskapitalgesellschaften zwecks Förderung nicht näher bestimmter digitaler Innovationen anlegen dürfen. Versichertengelder werden damit zweckentfremdet im Interesse der Gesundheitsindustrie. Die Abgeordneten des 122. Deutschen Ärztetages 2019 fordern, Geld der Versicherten in gute persönliche und individuelle Medizin zu investieren.
Europäische Gesundheitspolitik an Menschen ausrichten, statt an Konzernbilanzen
Die Ärzteschaft begrüßt die vielen Fortschritte, die die Europäische Union für die Gesundheitsversorgung zum Beispiel in den Bereichen der Arzneimittelsicherheit und der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung erreicht hat. Die EU-Kommission und das Europäische Parlament müssen aber verinnerlichen, dass die unterschiedlichen Gesundheitssysteme in Europa das Ergebnis soziokultureller Entwicklungen sind und Harmonisierungsversuche in diesem Bereich dem Vertrag von Lissabon widersprechen. Der 122. Deutsche Ärztetag fordert die europäischen Institutionen auf, ärztliche Leistungen keinen marktwirtschaftlichen Optimierungsstrategien unterzuordnen und bewährte Strukturen beruflicher Selbstverwaltung anzuerkennen. Die bisher von der EU-Kommission betriebene Deregulierung der freien Berufe lehnt die Ärzteschaft strikt ab. Die europäischen Institutionen müssen sich stattdessen auf eine Gesundheitspolitik mit echtem Mehrwert für die Menschen konzentrieren, wie die grenzüberschreitende Mobilität von Ärztinnen und Ärzten, ein sicheres ärztliches Arbeitsumfeld sowie den Schutz von Patientendaten.
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz - Unsere Erde braucht dringend Hilfe
Der Klimawandel ist die größte Gefahr für die globale Gesundheit. Die drohende Klimakatastrophe wird damit auch zu einer zentralen Gesundheitsfrage des 21. Jahrhunderts. Darin sind sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltärztebund einig. Das Klima ist ein entscheidender direkter und indirekter Faktor für die menschliche Gesundheit. Erderwärmung und Luftverschmutzung tragen jetzt und zukünftig zu einer Steigerung des Risikos für unsere Gesundheit bei. Insbesondere die Ärzteschaft ist der gesundheitlichen Prävention sowie der Schaffung und dem Erhalt aller gesundheitsfördernden und gesundheitserhaltenden Umweltbedingungen verpflichtet. Der Stopp des vom Menschen gemachten Klimawandels und damit seine Folgen auf die menschliche Gesundheit muss absolute Priorität auch im gesundheitspolitischen Handeln bekommen.
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