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Der Tagesspiegel

Pressestimmen: zu Sonderparteitag der SPD und Agenda 2010, Interview mit Henning Scherf

Berlin (ots)

Der Bremer Bürgermeister Henning Scherf (SPD) hält
nichts von einer Erhöhung der Erbschaftssteuer. Das sagte er im
Interview mit dem in Berlin erscheinenden "Tagesspiegel am Sonntag".
"Das ist doch nur ein sozialdemokratischer Fetisch", sagte der
SPD-Politiker. Auch eine höhere Mehrwertsteuer mache ökonomisch
keinen Sinn. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, müssten die
Lohnnebenkosten gesenkt werden, forderte Scherf. Konjunkturprogrammen
erteilte er in diesem Zusammenhang eine Absage. "Konjunkturprogramme,
die sich so lesen, als hätte Oskar Lafontaine sie geschrieben" seien
nicht der richtige Weg. "Wir müssten unseren Voodoo-Ökonomen Oskar
mal auf Parteikosten nach Japan schicken. seit Jahren geht dort ein
Konjunkturprogramm nach dem anderen schief", sagte der Bremer
Bürgermeister.
Im folgenden das komplette Interview:
„Voodoo-Ökonom Oskar nach Japan schicken"
Herr Scherf, wird es auf dem Parteitag schwer werden, die Basis
von der Agenda 2010 zu überzeugen?
Es gibt einen ganz breiten Konsens, dass Reformen notwendig sind.
Nur wir mit unseren gewerkschaftlichen Kollegen haben ein riesiges
Vermittlungsproblem. Es sieht manchmal so aus, als ob nur die SPD ein
Problem habe. In Wahrheit sind die hohe Arbeitslosigkeit und die
Löcher in den Sozialkassen ein gesamtgesellschaftliches Problem. Aber
alle gucken derzeit: Bekommen die Sozis wieder Handlungsfähigkeit in
den zentralen Fragen der Beschäftigungspolitik und der
Sozialversicherungsfinanzierung?
Kritiker fragen sich, was an der Agenda 2010 noch
sozialdemokratisch ist.
Die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist doch das Hauptthema der
Sozialdemokratie, seit es uns gibt. Schwarzarbeit ist keine
Alternative für uns - auch das ist klassisch sozialdemokratisch. Es
ist unsere Kernüberzeugung, dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden
müssen, weil die Bruttolöhne zu hoch sind.
Warum wird es dennoch zwischen Gerhard Schröder und der SPD nicht
richtig warm?
Schröder hat sich nicht darum gerissen, Parteivorsitzender zu
sein. Er hat sich diesen Posten nicht erkämpft, sondern geradezu
angedreht bekommen durch den Rücktritt von Oskar Lafontaine, der
einfach den Parteivorsitz hingeschmissen hat. Nun muss Schröder das
neben seinem Wahnsinnsjob als Kanzler auch noch machen. Es ist nicht
fair, wenn man ihm vorwirft: Du bist nicht die Seele der Partei! Er
will ja nicht die Seele oder der Parteiguru sein. Er ist ein
ambitionierter Kanzler mit großem Gepäck.
Sollte man die Posten nicht besser trennen: Parteivorsitzender und
Regierungschef?
In Bremen machen wir das so. Das hat eine gewisse Plausibilität,
vor allem wenn man sich in einer Koalition befindet. Als
Regierungschef muss ich auch Kompromisse vertreten - und das sind
dann in der Regel keine lupenreinen Parteiforderungen. Wer beide
Posten hat, muss dauernd die Argumente wechseln. Das strengt an.
Sollte Schröder sich einen neuen Parteichef suchen? Bald stehen in
der SPD Neuwahlen an. Gute Frage. Ich will ihm das nicht über die
Zeitung raten. Das wäre unangemessen.
Was passiert, wenn sich die Sozialdemokratie der Agenda 2010
verweigert?
Wir haben keine Wahl. Wir müssen uns den Realitäten stellen. Wir
müssen raus zu den Menschen gehen und ihnen die Reformen erklären.
Ich möchte eine Kultur von Nähe auch im großen gesellschaftlichen
Konflikt entwickeln. Ich glaube, das funktioniert. Ich lebe diese
Nähe. Man braucht die Koalition mit den Menschen, Bündnisse mit den
Betroffenen.
Rechnen Sie auf dem Parteitag mit großer Zustimmung zum
Reformpaket des Kanzlers?
Ein gutes Ergebnis erzielen wir dann, wenn es sich nicht lohnt
auszuzählen. Aber mal im Ernst: Es wird ganz eindeutig werden.
Wichtig ist vor allem, dass anschließend das Ergebnis auch
respektiert wird. Ich erwarte, dass die Fraktion den
Parteitagsbeschluss auch akzeptiert und umsetzt.
Könnten Sie der SPD-Linken die Zustimmung zur Agenda nicht
einfacher machen, indem sie eine Erhöhung der Erbschaftsteuer
fordern?
An der Diskussion habe ich mich nicht beteiligt. Es gab in den
letzten Monaten auch nie den Hauch einer Chance, das durch den
Bundesrat zu bekommen. Warum soll man sich daran abarbeiten? Das ist
doch nur ein sozialdemokratischer Fetisch.
Und eine höhere Mehrwertsteuer?
Die macht ökonomisch keinen Sinn. Die Mehrwertsteuer verteuert die
Nachfrage. Wir müssen die Konjunktur ankurbeln, dafür brauchen wir
eine höhere Nachfrage. Die Leute müssen wieder motiviert werden,
etwas zu unternehmen - egal ob als Unternehmer oder Konsumenten. Aber
nicht über die klassischen keynesianischen Konjunkturprogramme, die
sich so lesen, als hätte Oskar Lafontaine sie geschrieben. Wir
müssten unseren Voodoo-Ökonomen Oskar mal auf Parteikosten nach Japan
schicken. Seit Jahren geht dort ein Konjunkturprogramm nach dem
anderen schief.
Aber Gerhard Schröders Konzepte werden funktionieren?
Ich hoffe es. Die Agenda 2010 ist eine riskante Operation am
offenen Herzen. Für uns Sozialdemokraten ist das sehr ungewohnt.
Jetzt müssen ausgerechnet diejenigen diese Reformpolitik umsetzen,
die bisher klassische Sozialstaatspolitik gemacht haben. Die
rot-grüne Bundesregierung musste schon den ersten bewaffneten Einsatz
der Bundeswehr außerhalb der Nato seit Kriegsende durchsetzen. Das
war eine Höchststrafe!
Wie groß ist die Gefahr für Schröder, mit seinem Programm zu
scheitern?
Wenn wir ökonomisch wieder in Fahrt kommen, dann wird auch der
Kanzler ganz großen Nutzen davon haben, weil ihm dann dieser Erfolg
zugerechnet wird. Wenn wir allerdings japanische Verhältnisse
bekommen, wird es sehr schwer. Sie werden den Vermittlungsausschuss
zwischen Bundestag und Bundesrat leiten. Da wird fast alles landen,
was wir derzeit diskutieren. Ich will keine Schönheitspreise
gewinnen, sondern verhandlungsfähig bleiben. In allen Bundesländern
haben wir ein dramatisches Haushaltsproblem. Die Arbeitslosigkeit
bringt alles durcheinander. Deshalb haben wir ein sehr vitales
Interesse an gemeinsamer Arbeit. Die Bevölkerung erwartet, dass wir
uns nicht gegenseitig die Schuld zuschieben. Wir brauchen eine
undämonisierte und unvergiftete Zusammenarbeit.
Geht das nicht besser in einer großen Koalition auch auf
Bundesebene?
Darauf habe ich eine Standardantwort: Niemand in Berlin will so
etwas hören. Warum sollte ich mit Ratschlägen nerven? Manfred Stolpe
hat diesen Fehler mal gemacht. Er ist mit diesem Vorschlag so richtig
weggepustet worden.
ots-Originaltext: Der Tagesspiegel

Rückfragen bitte an:

Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon:030-260 09-419
Fax: 030-260 09-622
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