Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern
IM-MV: Statement von Staatssekretär Thomas Lenz zur Sitzung des Innen- und Europaausschusses am 11. Dezember 2020
Schwerin (ots)
Der Staatssekretär im Ministerium für Inneres und Europa Thomas Lenz hat heute im Innen- und Europaausschuss des Landtages Mecklenburg-Vorpommern wie folgt zu Vorgängen im Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern Stellung genommen:
Erstens. Es geht bei dem in Rede stehenden Sachverhalt nicht darum, dass der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern und die Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern den Anschlag hätten verhindern können. Entgegenstehende Aussagen wären schlicht falsch.
Zweitens. Der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern erhielt Mitte 2016 - also Monate vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz - einen Hinweis zu einem angeblich bevorstehenden Anschlag zum Ramadan 2016, in den eine Berliner Großfamilie verstrickt sein sollte. Der Ramadan fiel 2016 auf den Juni. Diese Informationen wurden unverzüglich an das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Landesverfassungsschutz Berlin weitergeleitet. Es wurden daraufhin umfängliche Maßnahmen zur Aufklärung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Berlin ergriffen.
Drittens. Erst im Februar 2017 - also zwei Monate nach dem Anschlag - erhielt der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern den Hinweis, dass die Berliner Großfamilie Amri zu dem Anschlag auf den Breitscheidplatz angestiftet haben soll. Diese Information wurde ebenfalls an die bezeichneten Behörden zur Auswertung weitergeleitet. Viertens. Der Berliner Verfassungsschutz teilte daraufhin bereits am 22. März 2017 mit, dass die von Mecklenburg-Vorpommern weitergeleitete Quellenaussage nicht den aufgeklärten Erkenntnissen über die Großfamilie entspricht und es keinen Kontakt der Familie zu Amri gab.
Fünftens. Deshalb wurde ein weiterer Hinweis der Quelle vom Mai 2017 über eine angebliche Fluchthilfe für Amri durch die Berliner Großfamilie nicht mehr weitergeleitet.
Sechstens. Dass der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern diese Informationen angesichts der vorherigen Bewertung des Berliner Verfassungsschutzes nicht weiterleitete, war fachlich noch vertretbar. Es war aber ein Fehler des Verfassungsschutzes, die politische Sensibilität des Sachverhaltes nicht zu erkennen. Denn dann wäre die Information gewiss weitergeleitet worden.
Im Zentrum der Diskussion stehen der ehemalige V-Personen-Führer des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern Herr S. und eine seiner V-Person. Diese V-Person - im Folgenden Quelle genannt - berichtete seit Anfang Juni 2016 - also Monate vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz - von Hinweisen, dass eine Berliner Großfamilie mit einem möglicherweise in Kürze bevorstehenden Anschlag zu Beginn des Fastenmonats Ramadan 2016 in Verbindung stehe. Hinweise auf Amri waren definitiv nicht dabei. Diese Information leitete der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern am 6. Juni 2016 an das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Berliner Verfassungsschutz weiter.
Daraufhin leiteten die Berliner Kollegen sehr umfangreiche nachrichtendienstliche Ermittlungen und intensive Observationsmaßnahmen ein, mithin das ganz große Besteck. Die konkreten Hinweise unserer Quelle konnten jedoch in keinerlei Hinsicht bestätigt werden. Die sehr umfangreichen Maßnahmen erfolgten aufgrund der Weiterleitung der Quelleninformation durch Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, aber die Ergebnisse waren im Hinblick auf einen Anschlag negativ.
Am 19. Dezember 2016 ereignete sich dann der schreckliche Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin. Wenige Tage später gab es ein weiteres Treffen mit der bereits erwähnten Quelle. Bei diesem Treffen wurden von der Quelle bemerkenswerterweise keine Erkenntnisse zu dem Anschlag vermittelt. Erst Anfang Februar 2017 - also eineinhalb Monate nach dem Anschlag - berichtete die Quelle von einer vermeintlichen Tatbeteiligung der besagten Großfamilie und einer möglichen Zusammenarbeit von Amri mit der Großfamilie. Die Quelle bat inständig darum, diese Information nicht weiterzugeben, da sie und ihre Familie sonst in Lebensgefahr schweben würden. Wichtig dabei ist: Die Quelle stützte sich bei seinen Ausführungen überwiegend auf Aussagen aus dem Bekanntenkreis. Es waren also keine Informationen aus erster Hand.
Dennoch gab der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern diese Informationen als Deckblattmeldung unverzüglich an das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Berliner Verfassungsschutz weiter.
Kurze Zusammenfassung: Der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern hatte somit VOR und NACH dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz Quelleninformationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Berliner Verfassungsschutz weitergeleitet, die zu umfangreichen Aufklärungsmaßnahmen durch den Berliner Verfassungsschutz führten. Die Quelleninformationen konnten dabei nicht bestätigt werden.
Am 2. und am 16. März 2017 gab es weitere Treffen mit der Quelle. Es wurden jeweils ein Treffbericht und zusammenfassend eine Deckblattmeldung angefertigt. Informationen zu Amri enthielten diese jedoch nicht. Es stellte sich insoweit die Frage, ob der Einsatz der Quelle bzgl. der Informationsgewinnung zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz überhaupt noch erforderlich ist. Der Leiter der Beschaffung wies den Quellenführer an, von den Kollegen der Auswertung eine entsprechende Einschätzung einzuholen.
Tatsächlich fragten Kollegen der Auswertung bereits am 16. März 2017 bei den Berliner Kollegen nach, ob die Quelle weiterhin Informationen sammeln soll. Zitat aus dem Anschreiben: "Vor dem Hintergrund des bei Ihnen bearbeiteten Falles [...] wird um eine Bewertung der von hier übermittelten Quelleninformationen [...] gebeten. Es ist von Interesse, inwieweit diese sich in die vom LfV Berlin gewonnen Erkenntnisse zum Gesamtsachverhalt einfügen. Es wird ebenfalls um kurze Mitteilung gebeten, ob und für wie wichtig das LfV Berlin auch ggf. künftig erhobene Informationen [der Quelle] in Bezug auf den Fall erachtet, da die Quelle derzeit einzig zur Informationsgewinnung für diesen Fall den Kontakt nach Berlin sucht." Zitat Ende.
Die Antwort aus Berlin mit Schreiben vom 22. März 2017 war eindeutig. Uns wurde mitgeteilt, dass die übermittelten Informationen auch mit umfangreichen Maßnahmen nicht bestätigt werden konnten und die Quelle nicht mehr benötigt wird.
Zwischenfazit: Es lagen offensichtlich keinerlei objektiven tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Verstrickung der Berliner Großfamilie in den Anschlag auf dem Breitscheidplatz vor. Es soll nicht behauptet werden, dass die These, Amri müsse bei seiner Tat und/oder nach seiner Tat Unterstützer gehabt haben, damit widerlegt ist; sollte es doch Unterstützer gegeben haben, wären diese aber nicht bei der hier bezeichneten Berliner Großfamilie zu suchen.
Am 24. Mai 2017 kam es zu einem weiteren Treffen mit der Quelle - also fast ein halbes Jahr nach dem Anschlag. Bei dem Treffen gab die Quelle nunmehr erstmals an: Amri sei ein von der Berliner Großfamilie bezahlter Attentäter. Dem Anschlag lag keine islamistische Gesinnung zugrunde, sondern schlicht Bereicherungsabsicht. Amri sei von der Großfamilie mit viel Geld bezahlt worden. Außerdem sei Amri von der Großfamilie mit einem Auto aus Berlin herausgeschafft worden. Ein Großteil der Informationen stamme erneut aus dem Bekanntenkreis der Quelle.
Diese Angaben schienen allein schon deshalb verwunderlich, weil sie sich in den genannten Aspekten in keiner Weise mit den vorherigen Aussagen der Quelle deckten. Deshalb gab es in der Folge keine Deckblattmeldung über das Treffen im Mai und keine Weiterleitung an die Bundesbehörden.
Herr. S wurde dann im September 2017 von der Beschaffung zu den Geheimschutzangelegenheiten im Verfassungsschutz umgesetzt.
Nach den mir vorliegenden Informationen blieb es dann fast zwei Jahre still. Im August 2019 suchte Herr S. schließlich das Gespräch mit Herrn Müller. Er sei unzufrieden im Bereich der Geheimschutzangelegenheiten und möchte in die Spionageabwehr umgesetzt werden. Es wurde ausweislich der mir vorgelegten Stellungnahme auch über Amri und über Informationen der besagten Quelle zu Verbindungen zwischen Amri und der Berliner Großfamilie gesprochen.
Am Abend des 22. Oktober 2019 empfing ich Herrn S. schließlich in meinem Büro. Herr S. war zu diesem Zeitpunkt für Geheimschutzangelegenheiten zuständig und bat dazu um einen Termin bei mir. Er berichtete davon, dass die Arbeit als Beschaffer im Verfassungsschutz sein Lebenselixier war. Mit seiner jetzigen Aufgabe im Bereich Geheimschutzangelegenheiten sei er unzufrieden. Er erwähnte zudem auf meine Nachfrage, dass er ursprünglich Polizist war.
Zudem erzählte er von einer Quelle, die Informationen über Amri und dessen vermeintliche Beziehungen zu einer Berliner Großfamilie habe. Er behauptete, dass diese Informationen nicht an die Bundesbehörden weitergeleitet worden wären. Er drückte mir ein zweiseitiges Schreiben über ein Treffen mit einer Quelle aus dem Mai 2017 in die Hand.
Ich versicherte Herrn S., dass ich mich der Sache annehmen, den Minister unverzüglich informieren und mit seinen Vorgesetzten umgehend sprechen werde. Ich sagte ihm, er könne sich darauf verlassen, dass ich mich darum kümmern werde. Ich bat zugleich um Verständnis, dass ich meinem Grundsatz folgend, zunächst die andere Seite hören müsse, bevor ich weitere Maßnahmen ergreife. Ich sagte ihm auch, dass er nicht zum Generalbundesanwalt gehen soll und wies ihn ausdrücklich auf einen möglichen Geheimnisverrat hin. Ich beendete das Gespräch und sagte ihm, dass er auf jeden Fall von mir hören werde.
Danach las ich mir das Schreiben über das Treffen mit einer Quelle aus dem Mai 2017 durch, das Herr S. mir übergab. Es enthielt die Behauptung dieser Quelle, dass die besagte Berliner Großfamilie Amri nach dem Anschlag bei der Flucht half und ihn für seinen Anschlag finanziell belohnte. Zu diesem Treffbericht wurde keine Deckblattmeldung verfasst und diese Information wurde auch nicht an andere Behörden weitergeleitet.
Ich war mir der hohen Brisanz dieser Neuigkeit sofort bewusst. Ich glaube, dass ich den Minister am selben Tag nicht mehr erreichen und ihn deshalb erst an einem der Folgetage informieren konnte, es müsste der 24. Oktober 2019 gewesen sein, da der Minister weder am Abend des 22. noch am 23. in seinem Büro war. Lorenz Caffier zeigte sich über die Information und insbesondere über den Zeitpunkt der Information zunächst ungläubig entsetzt, ja fassungslos, regelrecht konsterniert. Auch ihm war natürlich sofort die Bedeutung der Information bewusst, wenn sie denn tatsächlich stimmen würde. Der Minister betraute mich mit der Aufklärung des Sachverhaltes. Wir verabredeten, den Verfassungsschutz zur schriftlichen Stellungnahme und zur unverzüglichen Information des Generalbundesanwaltes aufzufordern. Ich verfasste einen Vermerk zu dem Gespräch mit S., verbunden mit der Aufforderung zur Stellungnahme durch den Verfassungsschutz.
Am 24. Oktober 2019 - also zwei Tage nach dem Gespräch mit Herrn S. - führte ich gleich früh morgens zu dem Sachverhalt ein Gespräch mit dem Leiter des Landesverfassungsschutzes und dem für Beschaffung zuständigen Referatsleiter. Im Laufe des Gesprächs kam der Büroleiter des Ministers dazu. Die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erläuterten mir, dass bereits im Juni 2016 ein intensiver Informationsaustausch mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Berliner Verfassungsschutz sowie der Polizei zu Angaben der Quelle erfolgt sei. Zu Amri habe die Quelle erstmals im Februar 2017 - also zwei Monate nach dem Anschlag - berichtet. Da sich jedoch alle Hinweise nicht bestätigt hätten und die Quellenmeldungen in jeder Hinsicht unglaubwürdig waren, wurde eine weitere Information zu der angesprochenen Fluchthilfe tatsächlich nicht mehr weitergegeben.
Noch in dieser Besprechung sagte ich meinen Mitarbeitern, dass das für mich fachlich zwar noch nachvollziehbar, aber politisch ein Fehler gewesen sei. Ich forderte, mir unverzüglich schriftliche Stellungnahmen vorzulegen und beauftragte sie, alle diesbezüglichen Unterlagen zu Amri so schnell wie möglich an den Generalbundesanwalt zu übersenden. Es wurde sofort zugesichert. Aus Zeitgründen solle ein sog. Behördenzeugnis für den Generalbundesanwalt erarbeitet werden.
Die umfangreichen Stellungnahmen zu dem Sachverhalt legte mir der Verfassungsschutz am 6., 7. und am 12. November 2019 vor. Zugleich wurde dem Generalbundesanwalt, wie zuvor angewiesen, am 6. November 2019 ein Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern übersandt, das alle Informationen zu Amri enthielt - auch die vermeintliche Fluchthilfe.
Am 3. Dezember 2019 berichtete schließlich der Verfassungsschutz in meinem Beisein in der Parlamentarischen Kontrollkommission des Landtags Mecklenburg-Vorpommern zu dem Sachverhalt.
Warum hat das Innenministerium nicht schon früher den Sachverhalt öffentlich aufgeklärt? Das ist eine berechtigte Frage. Für uns galt stets die Leitlinie, dass die Sachleitungsbefugnis beim Generalbundesanwalt liegt. Mir war es stets sehr wichtig, dass diese Zuständigkeit beachtet und respektiert wird. Genauso erwarte ich das auch von anderen Behörden gegenüber meinem Ministerium.
Es geht hier um Zuständigkeiten, um Kompetenzverteilungen zwischen Bund und Ländern, es geht um Gewaltenteilung. Mir sind diese Rechtsstaatgrundsätze extrem wichtig. Sie sind elementar für unsere freiheitlich-demokratisch Grundordnung. Sie sind für mich eine wichtige Handlungsmaxime.
Nun erkenne ich aber an, dass das rückblickend auch nicht die beste Entscheidung gewesen ist. Wir hätten sicherlich einiges geraderücken und klarstellen können - wenn auch nicht in der Detailtiefe, in der ich heute berichtet habe. Jedenfalls hatte bei uns niemand die Erwartung, dass mit unserer passiven Öffentlichkeitsarbeit in dieser Sache eine öffentliche Diskussion verhindert wird. Als ich anwies, die Unterlagen an den GBA zu schicken, war ich mir der Tatsache vollends bewusst, dass die Unterlagen früher oder später an den Untersuchungsausschuss und natürlich auch an Journalisten weitergegeben werden.
Der Respekt vor der Sachleitungsbefugnis des Generalbundesanwalts hat uns zur Zurückhaltung bewogen.
Mit Bezug auf die gestrige Pressemitteilung zur angeblich "verschwundenen Kalaschnikow" sei an dieser Stelle ergänzt: Die Deko-Waffe ist derzeit beim LKA eingelagert und die dortigen Experten bestätigten, dass die Waffe nicht mehr schussfähig gemacht werden kann. Der Umgang mit dieser Deko-Waffe im Verfassungsschutz war gewiss nicht durchgängig ordnungsgemäß. Das wurde auch aufgearbeitet. Die Deko-Waffe war nie verschwunden und schon gar nicht bei einem Anschlag eingesetzt worden.
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