"Report Mainz": Ex-Bundesverfassungsrichter kritisiert Zulagen an Abgeordnete
Prof. Hans-Joachim Jentsch: Bundestag und Landtage setzen sich über Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinweg
Mainz (ots)
Der frühere Bundesverfassungsrichter Prof. Hans-Joachim Jentsch kritisiert, dass sich der Bundestag und die meisten Landtage über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Fraktionszulagen hinwegsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 21. Juli 2000 (Az. 2 BvH 3/91) am Beispiel von Thüringen Zulagen aus Steuermitteln an Funktionsträger, wie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Ausschussvorsitzende, für verfassungswidrig erklärt, weil sie "gegen die Freiheit des Mandats und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten" verstoßen. Prof. Hans-Joachim Jentsch hatte das Urteil vor zehn Jahren als Bundesverfassungsrichter im Zweiten Senat mit erarbeitet.
Im Interview mit "Report Mainz" (heute auf www.reportmainz.de) betonte Jentsch, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 gelte auch für den Bundestag und die anderen Landtage: "Denn hier ist ein Grundsatz unseres parlamentarisch-demokratischen Systems, der im Grundgesetz angelegt ist, zum Ausdruck gekommen, und der gilt für den Parlamentarismus in ganz Deutschland auf allen Ebenen." Dennoch werden im Bundestag und in den meisten Landtagen weiterhin Funktionszulagen an stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Arbeitskreisleiter gezahlt.
Der frühere Bundesverfassungsrichter Jentsch kritisiert gegenüber "Report Mainz" den Umgang der Parlamente mit dem Urteil: "Das ist nicht besonders gerichtsfreundlich. Und das entspricht auch nicht dem Umgang von Verfassungsorganen untereinander. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Aufgabe wahrgenommen, um die Regelung des Grundgesetzes auszulegen. Wenn Parlamente dann kommen und sagen: 'Solange wir noch nicht konkret verurteilt worden sind, halten wir uns nicht dran', ist das eigentlich ein Verfahren, das einem rechtsstaatlichen Umgang nicht besonders nahe kommt."
Bundesverfassungsrichter a. D. Jentsch betonte, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 sei bindend für Abgeordnete im Bundestag und in den Landesparlamenten: "Ich denke, dass man die Aussage, dass hier noch etwas ungeklärt ist in Bezug auf ein Land, so nicht hinnehmen kann. Richtig ist, dass außer Thüringen noch kein Land verurteilt worden ist." Wenn nun Abgeordnete gegen eine mit dem Urteil von 2000 nicht in Einklang stehende Zulagenpraxis vor das Bundes- oder das Landesverfassungsgericht gingen, bedürfe es laut Jentsch "keiner großen Prognosekraft vorauszusagen, dass sie damit Erfolg haben würden".
Auslöser der öffentlichen Diskussion um Zulagen an Funktionsträger in den Landtagsfraktionen in Deutschland war ein Bericht des ARD-Politikmagazins "Report Mainz" am Montag, 20. September 2010, im Ersten. Nach Recherchen von "Report Mainz" kassieren Bundestags- und Landtagsabgeordnete bundesweit Millionen Euro Steuergeld durch verdeckte Zulagen zusätzlich zu ihren Diäten. Danach geben allein die Fraktionen in den Parlamenten der Flächenländer jährlich rund 4,5 Mio. Euro für Zulagen an Funktionsträger wie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Arbeitskreisleiter aus. Die Länder mit den höchsten jährlichen Ausgaben für Zulagen sind Bayern (940.000 EUR), NRW (880.000 EUR), Niedersachsen (570.000 EUR), Baden-Württemberg (510.000 EUR), Rheinland-Pfalz (450.000 EUR) und Sachsen-Anhalt (310.000 EUR). Darin sind die verfassungskonformen Zulagen für Fraktionsvorsitzende nicht enthalten.
Die Fraktionen verteidigen die Funktionszulagen vielfach mit dem Argument, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Arbeitskreisleiter leisteten aufgrund ihrer Funktionen Mehrarbeit, die auch entsprechend vergütet werden müsse. Dazu sagte Jentsch gegenüber "Report Mainz": "Dies ist abgedeckt mit den Diäten, und wenn die Diäten nicht ausreichen, um diese Tätigkeiten abzudecken, dann sollten die Parlamentarier wirklich den Mut haben, dafür einzutreten, dass ihre Diäten erhöht werden. Sie sind - wenn man die Gehaltsstrukturen in unserem Lande nimmt - wahrlich nicht üppig bei der Bedeutung ihrer Aufgaben, und da müssen sie ansetzen."
Eine ausführliche Fassung des Interviews mit dem früheren Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch veröffentlicht das ARD-Politikmagazin "Report Mainz" heute auf seiner Internetseite www.reportmainz.de.
Zitate gegen Quellenangabe frei. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an "Report Mainz", Tel.: 06131/929-3351.
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