Norbert Orwell 2010: "zusätzliche Sicherheitsstufe" für Atomkraftwerke entpuppt sich als Sicherheitsrabatt
Berlin (ots)
Pressemitteilung
AtG-Novelle zur Flankierung der Laufzeitverlängerung verwässert Sicherheitsmaßstab und schränkt Klagerechte von Betroffenen ein - Neuer Paragraph 7d durchlöchert "bestmögliche Schadensvorsorge" und schützt AKW-Betreiber vor teuren Nachrüstungen - "Handschrift" des früheren E.on-Managers und heutigen Abteilungsleiters Reaktorsicherheit im BMU - DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake: "Eine Gesetzesnovelle von der Atomlobby für die Atomlobby"
Mit einem perfiden Gesetzestrick will die Bundesregierung die Sicherheitsbestimmungen des Atomgesetzes verwässern und gleichzeitig die Klagerechte betroffener Bürger einschränken. Darauf hat die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) hingewiesen und den für Reaktorsicherheit verantwortlichen Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) scharf kritisiert. Röttgen hatte sich am Dienstag nach der Kabinettssitzung zum wiederholten Mal damit gebrüstet, mit der zuvor beschlossenen Änderung des Atomgesetzes (AtG) wolle die Bundesregierung eine "zusätzliche Sicherheitsstufe" einziehen. Tatsächlich werde mit der Einführung eines neuen Paragraphen 7d in das AtG in für Laien schwer zu entschlüsselndem Juristendeutsch genau das Gegenteil bezweckt.
"Wir erleben eine Sprachverdrehung von wahrhaft Orwellscher Dimension, mit dem klaren Ziel die AKW-Betreiber vor teuren Sicherheits-Nachrüstungen zu schützen", erklärte DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake. Bundesumweltminister Norbert Röttgen versuche seit Tagen den Eindruck zu erwecken, der neue Paragraph 7d ("Weitere Vorsorge gegen Risiken") bewirke, wie schon die Überschrift suggeriere, ein "Mehr" an Sicherheit in alternden Atomkraftwerken, die nach dem Willen der Bundesregierung bis zu 50 und mehr Jahren laufen sollen. In Wahrheit werde jedoch erstmals der seit Jahrzehnten unangetastete hohe Sicherheitsmaßstab des Atomgesetzes verwässert. Außerdem sollen Klagerechte betroffener Bürger wieder abgeschafft werden, die diese erst vor zwei Jahren nach jahrelangen Auseinandersetzungen vor dem Bundesverwaltungsgericht erstritten hatten. "Nach dem so genannten Geheimvertrag zur Gewinnabschöpfung bereitet die Bundesregierung jetzt einen weiteren Coup vor. Mit ihm soll Anwohnern von Atomanlagen das mühsam erstrittene Recht, einen wirksamen Schutz gegen mögliche terroristische Attacken einklagen zu können, durch die Hintertür wieder genommen werden", kritisierte Baake.
Nach dem geltenden Atomgesetz sind die Betreiber von Atomkraftwerken von jeher zu einer dynamischen Anpassung der Sicherheitsvorkehrungen an aktuelle Entwicklungen und neu erkannte Risiken verpflichtet, erläuterte die Leiterin Klimaschutz und Energiewende der DUH, Rechtsanwältin Cornelia Ziehm. Das so genannte "Gebot des dynamischen Grundrechtsschutzes" wurde bereits in den 1970er Jahren vom Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Kalkar-Urteil bestätigt und ist seither unbestritten. Das heißt, die Betreiber der Atomkraftwerke sind auf der Grundlage des Standes von Wissenschaft und Technik stets zur bestmöglichen Schadensvorsorge verpflichtet, die Sicherheitsbehörden können auf dieser Grundlage kontinuierlich Nachrüstungen fordern und durchsetzen. Die "bestmögliche Vorsorge" umfasst dabei alles, bis auf Risiken, die nach dem Maßstab praktischer Vernunft auszuschließen sind. Das bisherige Atomrecht kennt also zwei Kategorien, zum einen die einklagbare "bestmögliche Vorsorge" und zum anderen das hinnehmbare so genannte Restrisiko.
Vor diesem Hintergrund ist es sowohl begrifflich wie auch inhaltlich eigentlich unmöglich, zusätzlich zwischen der gebotenen "bestmöglichen" Vorsorge und dem hinnehmbaren Restrisiko eine neue Kategorie der "weiteren Vorsorge" definieren zu wollen. Mit dem gestrigen Kabinettsbeschluss soll den Reaktorsicherheitsbehörden die Möglichkeit eröffnet werden, Maßnahmen, die bisher in den Bereich der "bestmöglichen Vorsorge" eingestuft wurden, einer Überprüfung zu entziehen und der "weiteren Vorsorge" zuzuordnen. Es gab und gibt jedoch keine gesetzgeberische Lücke und mithin auch keinen Grund sie zu füllen. Mit dem neuen § 7d sollen die Betreiber nach der eigenen Begründung der Bundesregierung auch keineswegs zur Vorsorge gegen Schäden verpflichtet werden, die bislang dem Restrisiko zugeordnet wurden. Ziehm: "Das Gegenteil ist der Sinn der Übung. Das nennen wir eine perfide Strategie".
Sollte das Parlament die von der Bundesregierung vorgeschlagene Atomgesetznovelle, insbesondere die Neuregelung in § 7d, tatsächlich verabschieden, hätte dies weitreichende Auswirkungen auf künftige Klagemöglichkeiten von Anwohnern. Würden beispielsweise betroffene Bürger gegen alte, besonders schlecht gegen gezielte Flugzeugabstürze geschützte Atomkraftwerke klagen und die bestmögliche Schadensvorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik einfordern, könnte die Atomaufsicht das Risiko problemlos dem neuen § 7d zuordnen. Den Klagewilligen würde ihr Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008, wonach seit dem terroristischen Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 solche Risiken nicht mehr dem "Restrisiko" zuzuordnen seien, nicht weiterhelfen. Denn § 7d würde den Bürgern jedes Klagerecht entziehen, die Gerichte müssten die Klage schon aus formalen Gründen abweisen. Im Übrigen wären die Sicherheitsbehörden völlig frei zu entscheiden, ob die AKW-Betreiber überhaupt zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen müssen oder welche "geeignet und angemessen" wären, da der Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr gelten und er auch nicht durch andere gesetzliche Maßstäbe oder die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle ersetzt würde.
Nach Überzeugung der DUH trägt die AtG-Novelle die Handschrift des im federführenden Bundesumweltministerium hauptzuständigen Abteilungsleiters und früheren E.on-Managers Gerald Hennenhöfer. Baake: "Der ganze Vorgang ist skandalös. Zur Abstimmung im Bundestag steht eine Gesetzesnovelle von der Atomlobby für die Atomlobby."
Anhang: Rechtliche Bewertung des von der Bundesregierung geplanten neuen § 7d AtG http://www.duh.de/pressemitteilung.html?&tx_ttnews[tt_news]=2400
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Berlin; Mobil: 0151 55016943, Tel.: 030 2400867-0, E-Mail:
baake@duh.de
Dr. Cornelia Ziehm, Leiterin Klimaschutz und Energiewende, Hackescher
Markt 4, 10178 Berlin; Mobil: 0160 94182496; Tel.: 030 2400867-0,
E-Mail: ziehm@duh.de
Dr. Gerd Rosenkranz, Leiter Politik und Presse, Hackescher Markt 4,
10178 Berlin, Mobil: 0171 5660577, Tel.: 030 2400867-0, E-Mail:
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