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Der Tagesspiegel

Pressestimmen: Geben Sie die Traditionen der SPD auf,Herr Scholz? Der Generalsekretär über das neue Grundsatzprogramm der Partei, zynische junge Politiker – und seine eigenen Fehler

Berlin (ots)

Die SPD will Investitionen in die Bildung für
Kinder in Zukunft den Vorrang vor Rentenerhöhungen einräumen. „Die
Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialem Ausschluss zu vermeiden",
sagte SPD- Generalsekretär Olaf Scholz dem „Tagesspiegel am Sonntag",
sei „von größerer Bedeutung als das konkrete Renteniveau".
Scholz gab zu, dass es „ein Problem der Gerechtigkeit zwischen den
Generationen gebe, das „Politik nicht klein reden" dürfe. Deshalb sei
es das Ziel der SPD, eine „Balance zwischen den Leistungen für die
Älteren und den Belastungen der Jüngeren" herzustellen. Seine Partei,
sagte Scholz, werde den Mut auch zu unpopulären politischen
Entscheidungen gegen die Interessen der großen Zahl älterer Wähler
aufbringen. „Ich bin überzeugt, dass die meisten älteren Wählerinnen
und Wähler die Notwendigkeit von Reformen verstehen."
In der Programmdiskussion der SPD verteidigte Scholz sein
Vorhaben, über den Begriff des „demokratischen Sozialismus" kritisch
zu diskutieren. „Es gibt keinen gesellschaftlichen Zustand mit diesem
Namen, der auf unsere marktwirtschaftlich geprägte Demokratie folgen
wird", sagte Scholz. Deshalb sollte die SPD „nicht solche Illusionen
erzeugen".
Kritikern seiner Position in der Partei hielt Scholz entgegen, in
westlichen Ländern würden heute immer mehr Menschen aus dem
solidarischen System herausfallen. Die SPD müsse deshalb
„Lebenschancen und Teilhabe für mehr Menschen schaffen".
Nachfolgend das Interview im Wortlaut:
Herr Scholz, seit einem guten Jahr sind Sie Generalsekretär der
SPD. Und genau so lange liegt Ihre Partei in Umfragen unter 30
Prozent. Was machen Sie bloß falsch?
Das hat nichts mit mir zu tun, sonst ließe sich das Problem ja
leicht beheben. Die SPD ist nun mal in einer komplizierten Situation.
Wir müssen sehr viele, sehr schwierige Reformen auf den Weg bringen.
Und das löst nicht nur Freude bei den Menschen aus. Aber ich bin
zuversichtlich, dass wir den Lohn der Mühe erhalten und uns die
Wähler für unsere mutige Politik belohnen werden.
Mit dieser Erklärung beruhigen Sie die Partei nun schon seit
Januar.
Ich habe nicht erwartet, dass wir mal eben im Vorübergehen ein
paar Reformen machen und dann gleich wieder alle begeistert sind. Und
ich erwarte auch für den Herbst noch intensive Diskussionen über die
Politik der SPD. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Und als
Generalsekretär hoffe ich natürlich, dass uns die Wählerinnen und
Wähler dann auch bei der nächsten Wahlen unterstützen werden.
Warum ist es denn so schwer, Ihre Reformen zu verstehen?
Es ist nun mal so in Deutschland, dass die Mehrheit der
Bevölkerung tief greifende Reformen fordert. Man will Politiker, die
handeln und nicht nur reden. Aber wenn dann eine Regierung die
Probleme anpackt, herrschen bisweilen Skepsis und Verzagtheit.
Vielleicht spüren die Menschen, dass Ihr Weg nicht der richtige
ist?
Die Menschen können uns vertrauen. Und zwar nicht, weil ich
glaube, dass wir immer die richtigen Entscheidungen treffen. Sondern
weil wir erkannt haben, dass die Reformen keinen Aufschub dulden,
dass das Wichtige getan werden muss. Dieser Weg setzt eine klare
Zielbestimmung voraus. Die haben wir mit der Agenda 2010 vorgenommen.
Und wir machen handfeste Politik - etwa in der vergangenen Woche mit
den Gesetzentwürfen, die das Bundeskabinett beschlossen hat. Dass es
am Ende immer Veränderungen daran geben wird, liegt in der Natur der
Sache. Denn wir leben in einem föderalen Land, in dem der Bundesrat
mit entscheidet. Und letztlich ist diese Suche nach einem Kompromiss
auch gar nicht so schlecht.
Ist das Misstrauen der Menschen nicht vielmehr ein Reflex auf die
Sprunghaftigkeit der SPD?
Wir haben nicht immer alles richtig gemacht. Und wir haben auch
einige Entscheidungen revidiert. Aber das ist doch verständlich
angesichts des umfassenden Reformbedarfs, den es in Deutschland gibt.
Immer konsequent sind wir aber beim Senken von Steuern und dem
Stopfen von Steuerschlupflöchern geblieben. Und Konstanz zeigt die
SPD bei ihrem Weg, die Beiträge zu den Sozialversicherungen zu
senken. Ein erster Schritt war die Rentenreform in der letzten
Amtszeit von Rot-Grün. Weitere werden die Gesundheitsreform und die
Fortsetzung der Rentenreform in dieser Amtszeit sein.
Was hat die SPD eigentlich aus den Fehlern der letzten
Regierungszeit gelernt?
Das notwendige Tempo der Reformen ist in der Hoffnung auf einen
baldigen Konjunkturaufschwung unterschätzt worden. Doch mit diesem
Irrtum sind wir ja nicht allein. Wer hat schon damit gerechnet, dass
die Wirtschaft in Deutschland drei Jahre hintereinander stagniert?
Wir haben in der ersten Legislaturperiode die Steuerreform und die
ersten Schritte der Rentenreform auf den Weg gebracht. Und nun werden
wir die nächsten nötigen Reformschritte noch bis zum Jahresende
umsetzen. Das gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für das
Gesundheitssystem und auch die Rente.
Nicht nur die Opposition wirft Ihnen handwerklichen Pfusch vor,
sondern auch Verbände und Kommunen.
Das mit dem Pfusch ist doch nur so ein Spruch. Die Gesetze, die
wir jetzt auf den Weg bringen, sind alle sehr sorgfältig vorbereitet.
Und was die Geschwindigkeit angeht, da möchte ich sehr deutlich
sagen: Wir müssen jetzt die Entscheidungen treffen, damit die
anspringende Konjunktur im nächsten Jahr unterstützt wird. Und wir
müssen jetzt die Solidarsysteme zukunftsfest machen, damit die
Belastungen der Bürger und Unternehmen sinken und mehr Menschen
Arbeit finden. Deutschland hat keine Zeit zu verlieren.
Was sagen Sie denn einem Arbeitslosen, der 13 Monate keinen neuen
Job gefunden hat und auf einmal gezwungen sein wird, von Sozialhilfe
zu leben?
Nein. Er muss nicht von Sozialhilfe leben, sondern er erhält
anstelle der schon bisher aus Steuermitteln bezahlten
Arbeitslosenhilfe das Arbeitslosengeld II. Wer so lange keine Arbeit
gefunden hat, wird auch in Zukunft vor Armut geschützt bleiben. Auf
das Arbeitslosengeld II werden Sozialversicherungsbeiträge gezahlt.
Hinzu kommen Leistungen für die Familie, die Unterkunft und ein
zweijähriger Zuschlag. Vom eigenen Vermögen bleiben das Haus, das
Auto und die geförderte Altersvorsorge anrechnungsfrei. Im Übrigen:
Der beste Schutz vor Armut ist ein Arbeitsplatz. Genau deshalb
verändern wir ja auch vieles bei der Bundesanstalt für Arbeit. Heute
fühlen sich arbeitslose Menschen häufig eher verwaltet als
unterstützt. Bisher kamen auf einen Vermittler bis zu 800
Arbeitslose. Das haben wir auf 400 gesenkt. Künftig wird ein
Vermittler 75 Arbeitslose betreuen.
Wie soll Ihnen denn ein Arbeitsloser dort, wo es keine Jobs zu
vermitteln gibt, vertrauen?
Verabschieden wir uns doch von dieser fatalistischen Vorstellung,
dass es Vollbeschäftigung nur anderswo, aber nicht in Deutschland
geben kann.
Fordern Sie blindes Vertrauen in die Richtigkeit Ihrer Politik?
Natürlich nicht. Aber zunächst einmal die Einsicht, dass nicht
alles so bleiben kann, wie es ist. Ist es denn gerecht, wenn heute
ein arbeitsloser Packer, der 30 Jahre geackert hat, weniger
Arbeitslosenhilfe vom Steuerzahler erhält, als jemand, der vier Jahre
als Akademiker gut verdient hat? Diesen Missstand ändern wir. Wir
schützen die Menschen vor Armut und helfen ihnen, Arbeit zu finden.
Fragen wir doch mal einen Selbstständigen, dem Sie
Steuerentlastung versprochen haben, nach seinem Vertrauen. Der muss
jetzt Gewerbesteuer zahlen und seine Pendlerpauschale wird
gestrichen.
Die Steuern in Deutschland müssen und werden für alle gesenkt.
Dass mancher Steuerprivilegien dafür hergeben muss, ist nur gerecht.
Zumal, wenn es sich, wie bei der Eigenheimzulage und der
Pendlerpauschale, um fragwürdige Subventionen handelt.
Und worauf sollen die SPD-Bundestagsabgeordneten vertrauen, die
Ihre Gewerbesteuerreform ablehnen?
Ich rate jedem, der jetzt in dieser hitzigen Debatte argumentiert,
sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum es eigentlich geht.
Die Kommunen sollen mehr Geld erhalten. Die Regierung hat nun
vorgeschlagen, 2,5 Milliarden Euro vor allem aus den Kassen von Bund
und Ländern an die Kommunen zu geben. Und das soll geschehen, ohne
dass Unternehmen, die Verluste machen, Gemeindewirtschaftssteuer
zahlen müssen. Das ist doch vernünftig.
Was macht Sie denn so sicher, dass Sie am Ende auch das Richtige
getan haben werden?
Dazu braucht man natürlich einen Kompass. Richtig ist für mich
alles, was der wirtschaftlichen Belebung dient. Und richtig ist
Gerechtigkeit. Das heißt, dass die Menschen, die Unterstützung
benötigen, diese vom Sozialstaat auch erhalten.
Und falsch ist der „demokratische Sozialismus" in Ihrem
Parteiprogramm?
Ich denke, darüber werden wir uns auseinander setzen müssen. Ich
selbst sehe den Begriff des demokratischen Sozialismus in der SPD
nicht als das an, wofür er von manchem herangezogen wird, nämlich als
gesellschaftliches Ziel, das die SPD anstrebt. Es gibt keinen
gesellschaftlichen Zustand mit diesem Namen, der auf unsere
marktwirtschaftlich geprägte Demokratie folgen wird. Und deshalb
sollten wir nicht solche Illusionen erzeugen. In meinem Verständnis
ist die SPD eine Emanzipations- und keine Transformationsbewegung.
„Aber die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie muss zu den
Zielen der SPD gehören."
In welchem Seminar haben Sie das denn gelernt?
Wir zitieren Olaf Scholz in einem Beitrag der „Zeitschrift für
Sozialistische Politik und Wirtschaft" aus dem Jahr 1987.
Das liegt Gott sei Dank lange zurück. Die SPD ist die älteste
emanzipatorische Bewegung unseres Landes. Wir haben uns immer dafür
eingesetzt, dass die Menschen, die nicht mit goldenen Löffeln im Mund
geboren sind, Chancen haben, an Bildung und Arbeit teilzunehmen. Und
das wird unsere Aufgabe bleiben.
Es gibt Genossen, die Ihnen vorwerfen, dass Sie der SPD die
Geschichte klauen wollen.
Das will ich nicht. Das könnte ich übrigens auch gar nicht.
Verstehen Sie denn deren Ängste?
Ganz ehrlich: nein. Die eigentlich spannende Frage ist doch, wie
wir heute mehr Lebenschancen und Teilhabe für mehr Menschen schaffen.
Das ist doch ein ur-sozialdemokratisches Anliegen. Die SPD war immer
die Partei der Gerechtigkeit in Deutschland. Und das wird sie auch
weiterhin sein. Nur müssen wir im 21. Jahrhundert über das Wesen von
Gerechtigkeit neu nachdenken. Nehmen wir die Ergebnisse von Pisa. Es
ist doch erschreckend, wenn in Deutschland ein Arbeiterkind eine
fünf- bis siebenmal geringere Chance hat, das Abitur zu erwerben, als
ein Kind aus einer Akademikerfamilie. Oder wenn jeder zehnte Schüler
die Schule ohne jeden Abschluss verlässt. Ich sehe darin eine
Ungerechtigkeit, mit der sich die SPD beschäftigen sollte.
Indem Sie SPD-Traditionen wegschieben?
Eben nicht. Die SPD hat immer für eine solidarische Gesellschaft
gekämpft. Und dafür werden wir auch in Zukunft streiten. Wenn es
allerdings so ist, dass in vielen westlichen Ländern immer mehr
Menschen aus dem solidarischen System herausfallen und keine Chance
auf Teilhabe erhalten, dann muss man diese dramatische Entwicklung
aufhalten. Das hohe Niveau unseres Sozialstaates ist eine
Errungenschaft, die sich sehen lassen kann. Dabei bleibt es auch.
Heißt das, die historische Aufgabe der SPD von der Umverteilung
ist erfüllt, jetzt geht es nur noch um Teilhabe?
Das ist nicht meine Ansicht. Beim Kindergeld, bei der
Grundsicherung für Alte, beim Wohngeld haben wir seit 1998 die
Leistungen verbessert, im Steuersystem vor allem kleine und mittlere
Einkommen und Familien entlastet. Darauf sind wir richtig stolz. Doch
es kann in Zukunft nicht mehr nur darum gehen, das Niveau der
Umverteilung zu erhöhen. Das kann niemand glaubwürdig versprechen.
Das Maß der Gerechtigkeit wird vielmehr davon abhängen, wie viele
Menschen an unserem auf Erwerbsarbeit ausgerichteten System teilhaben
können. Der Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit in diesem Sinn liegt vor
allem in der Bildung. Denn Menschen, die keinen Hauptschulabschluss
haben, werden in ihrem ganzen Leben immer mehr mit Armut zu kämpfen
haben als Diplom-Ingenieure.
Ist das der Abschied von der Gleichheit?
Im Gegenteil, es geht um gleiche Chancen für alle. Deutschland
muss viel mehr Geld in die Bildung seiner Kinder und Jugendlichen
investieren. Es ist doch wichtiger, die Ursachen von Arbeitslosigkeit
und sozialem Ausschluss im voraus zu vermeiden, als später mit
staatlichen Transferleistungen einzugreifen, wenn der „soziale
Schadensfall" schon eingetreten ist. Das ist von größerer Bedeutung
als das konkrete Rentenniveau.
Dann haben die Jungen ein Recht darauf, sich jetzt zu beklagen,
dass Politik auf ihrem Rücken gemacht wird?
Jeder hat ein Recht, sich zu beklagen. Ich sage: Es gibt ein
Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, und die Politik
darf es nicht klein reden. Die Probleme sind aber auch lösbar. Das
ist das, was wir mit unserer Rentenreform vorhaben. Es geht um die
Balance zwischen den Leistungen für die Älteren und den Belastungen
der Jüngeren. Auch die Frage der Staatsverschuldung dürfen wir auf
keinen Fall aus dem Blick verlieren. Kluge Reformen sind auch besser
als überspitzte Auseinandersetzungen, wie wir sie in den letzten
Tagen erlebt haben. Die Äußerungen des jungen CDU-Politikers
Mißfelder waren peinlich und zynisch.
Hat die SPD dazu den Mut, wenn doch die Zahl der älteren Wähler
die der jungen weit übertrifft?
Ja. Und ich bin überzeugt, dass die meisten älteren Wählerinnen
und Wähler die Notwendigkeit der Reformen verstehen.
Inhaltliche Rückfragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Ressort Politik
Matthias Meisner, Telefon 030-26009-219
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Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon:030-260 09-419
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