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Vorabmeldung "Kontraste", 16.05.2013, Auschwitz-Ermittlungen: Strafrechtler kritisieren Ermittlungspraxis der Zentralen Stelle in Ludwigsburg
Berlin (ots)
Falsche Rechtsauffassung ließ Täter ungeschoren davonkommen
Im Fall der neuen Ermittlungswelle gegen Nazi-Verbrecher in Deutschland kritisiert der Strafrechtler Cornelius Nestler, dass die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Gewalttaten in Ludwigsburg über Jahrzehnte einer fehlerhaften Rechtsauffassung gefolgt ist. Es sei "vollkommen falsch" gewesen, nicht schon früher gegen ehemalige Angehörige der SS-Wachmannschaften des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu ermitteln, sagte Nestler dem ARD-Magazin "Kontraste" (Donnerstag, 16. Mai, 21.45 Uhr). Die Zentrale Stelle habe trotz anderslautender Urteile des Bundesgerichtshofes aus den sechziger und siebziger Jahren die Auffassung vertreten, dass Angehörige eines Vernichtungslagers nur dann verfolgt werden könnten, wenn ihnen konkrete Einzeltaten nachgewiesen werden. Mit dieser Haltung hätten die Ermittler letztlich jahrzehntelang "juristischen Blindflug" begangen.
Nestler hatte im Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Wärter John Demjanjuk die Nebenklage vertreten. Das Landgericht München sprach Demjanjuk 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen für schuldig, ohne eine direkte Tatbeteiligung nachzuweisen. "Damals gab es immer den Vorwurf, das wäre etwas ganz Neues", sagte Nestler. Doch die Rechtsprechung habe sich mit dem Urteil nicht geändert: Bereits in den sechziger und siebziger Jahren hätten Gerichte in den Urteilen zu den Vernichtungslagern in Sobibor und Treblinka "ausdrücklich" festgestellt, dass auch all jene Tätigkeiten als Beihilfe bewertet werden müssten, die "funktional" zu den Morden in den Vernichtungslagern der Nazis beigetragen hätten.
Die 1958 eingerichtete Zentrale Stelle ermittelt derzeit - fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - gegen 50 Verdächtige, die im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gearbeitet haben sollen. Der Leiter der Zentralen Stelle, Kurt Schrimm, wies im Gespräch mit der ARD den Vorwurf zurück, zu lange mit den Ermittlungen gewartet zu haben. Er beharrt darauf, dass sich die Rechtsprechung erst mit dem Fall Demjanjuk geändert hätte: "Ein Neu-Überdenken jetzt im Anschluss an Demjanjuk hat uns dazu gebracht zu sagen, vielleicht war diese Rechtsprechung doch falsch, und wir werden versuchen, eine neue Rechtsprechung herbeizuführen."
Der Strafrechtler und Leiter des Amsterdamer Forschungsprojekts "Justiz und NS-Verbrechen", Christiaan F. Rüter, wirft der Zentralen Stelle vor, mit dafür verantwortlich zu sein, dass tausende Angehörige der Wachmannschaften der Vernichtungslager jahrzehntelang ungeschoren davonkamen. Rüter sagte dem ARD-Politikmagazin: "Die Zentrale Stelle hat bestimmt auch gute Arbeit geleistet. Aber die Zentrale Stelle ist gegründet worden, um die Masse der Beihilfe-Leute unverfolgt davonkommen zu lassen."
Sendung: "Kontraste", im Ersten, 16. Mai 2013, 21.45 Uhr
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