Berliner Morgenpost: Die deutsche Einheit bleibt eine täglich neue Aufgabe - Leitartikel
Berlin (ots)
Zu den größten Missverständnissen gehört die typisch deutsche Annahme, bei der Einheit handele es sich um einen geraden, übersichtlichen Vorgang, der eines Tages erledigt sei wie die Steuererklärung. Unsinn! Seit dem 9. November 1989 herrscht ein hochkomplexes Wabern zwischen Glück und Unglück, großer und kleiner Ökonomie mit dörflichen bis weltpolitischen Schwingungen. Die Einheit, das sind über 80 Millionen Leben mit keineswegs einheitlichen Empfindungen. Für Helmut Kohl bedeutet der Mauerfall den sicheren Eintrag im Geschichtsbuch, für Egon Krenz dagegen eine Art Verbannung in sein Ostseehaus. Viele DDR-Bürger haben die Einheit gewollt und angenommen, den Westen für sich genutzt - allen voran die Integrationskünstlerin Angela Merkel. Andere, und nicht nur die Trägen, sind abgehängt worden. Viele Westler mögen den offenen Blick nach Osten, andere fürchten sich oder bejammern noch immer den Soli. Von Korea aus wird die Einheitsleistung der beiden Deutschlands als Wunder betrachtet, das als Blaupause dienen wird, falls das asiatische Land eines Tages wieder zusammenfindet. Für manche Menschen dagegen ist die Einheit nach wie vor eher Trauma als Traum. Kerstin Kaiser zum Beispiel, die Machtfrau der Brandenburger Linkspartei, gesteht, dass der Moment, da die Mauer fiel, für sie kein Grund zum Jubeln war, sondern der Moment, da sie ihre Heimat verlor. Und es sind nicht nur SED-Kader, die bis heute das Gefühl haben, im neuen Land noch nicht angekommen zu sein. Da ist nicht nur Ostalgie im Spiel, sondern das real existierende Gefühl, sich für die eigene Biografie unentwegt entschuldigen zu müssen. Der Einheitsprozess verläuft nicht linear, sondern in Wellen und Kreisen, die sich ob ihrer verschiedenen Tempi vielfach überlagern oder gar entgegenlaufen und widersprüchlichste Emotionen erzeugen. Einer gigantischen volkswirtschaftlichen Leistung steht gefühlter oder realer Abstieg gegenüber, der weltweit wohl größten ökologischen Sanierung ein schleichendes Veröden, dem Gewinn der Freiheit die Sehnsucht nach staatlicher Rundumfürsorge. Spätestens mit dem nahezu in allen Bundesländern etablierten Fünfparteiensystem sollte nun auch der letzte Westler begriffen haben, dass der 9. November sehr konkrete politische Folgen hatte. Der Umgang mit neuen Mehrheitsoptionen will noch gelernt werden. Brandenburgs Ministerpräsident hat grundsätzlich recht, wenn er Versöhnung anmahnt; die Kanzlerin liegt aber ebenso richtig, wenn sie feststellt, dass es einen Schlussstrich nicht geben könne. Wie sollte dieser Strich auch aussehen? Man kann die Vergangenheit nicht aus den Köpfen schneiden. Die Jahre von 1949 bis 1989 werden immer im kollektiven Gedächtnis der Deutschen haften bleiben, sich mit der Zeit aber zwischen, unter, über andere Epochen-Sedimente legen. Die Einheit war und ist ohne Alternative. Und der Umgang damit eine täglich neue Aufgabe.
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