BERLINER MORGENPOST: Auf den Schulhöfen im Kiez ändert sich nichts - Leitartikel
Berlin (ots)
Die Berliner Stadtzeitschrift "Zitty" ist braunen Gedankenguts völlig unverdächtig. Die aktuelle Ausgabe trägt den Titel "Flucht vor Multikulti. Brennpunkt Schule - warum Berliner Eltern ihren Kiez verlassen". Geschildert werden die alltäglichen Gewalt-Probleme, aber auch die seelischen Nöte von Eltern, die kulturelles Miteinander leben wollen, aber daran scheitern. "Ich kann doch mein Kind nicht der Integration opfern", sagt beispielsweise eine hilflose Mutter. Die Lage in Problemkiezen ist hinlänglich bekannt und schonungslos beschrieben, zuletzt durch Kirsten Heisig. Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky wird von vielen längst nicht mehr als gewissenloser Populist wahrgenommen, sondern als unaufgeregte Stimme einer vielfach deprimierenden Realität. Berlin weiß meist zu differenzieren zwischen einer heiter-bunten Vielvölkerveranstaltung wie dem "Karneval der Kulturen" und dem Mobbing der Kulturen auf manchen Schulhöfen. Warum nur zieht Thilo Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" Zehntausende von Vorbestellungen, aber auch radikale Ablehnung, am Ende aber so gewaltige Emotionen auf sich? Warum lässt sich die Kanzlerin herab, einen Autoren zu verdammen, dessen Buch sie wohl kaum gelesen hat? Warum mühen sich die einen zu beweisen, dass der Autor ein verkappter Nazi sei, während die anderen ihn zum Volkshelden emporsingen? Ganz einfach: weil Sarrazin es so will. Der frühere Finanzsenator gibt ganz offen zu, dass er auch keine Lösung für die komplexen Probleme weiß, aber von Herzen gern polarisiert. Die Statistikhalden des Buches verheißen ein Faktenwerk, in Wirklichkeit aber legt Sarrazin voller Absicht eine Provokationsschrift vor: Er will die Grenzlinien der deutschen Debattenkultur testen - wie weit am Abhang kann man balancieren? Wann quietscht welches Feuilleton, wann die große Politik? Wie weit lässt sich dagegen der Jubel im Volk aufdrehen? Sarrazin macht keinen Hehl daraus, dass er große Freude empfindet, auf all jenen Knöpfen herumzuspielen, die in Deutschland automatisch Alarm auslösen. Und seit Jahren erhöht er die Dosis. Früher waren es die Hartz-IV-Menüs, dann die "Kopftuchmädchen", jetzt wabert es "völkisch" durchs Buch. Nicht ohne Stolz berichtet der Autor, sein Verlag habe ihm vorauseilend verboten, das Wort "Rasse" zu benutzen. Stattdessen referiert Sarrazin nun über Gen-Pools, beleiht 25-Punkte-Plan und Überfremdungsargumentationen vergangener Zeiten. Ein wenig Marketing müsse eben sein, erklärt der Autor. In seiner geradezu kindlichen Neugier darauf, wie Reflexe funktionieren, in seiner Lust am Aufmerksamkeitsspiel unterscheidet sich Sarrazin gar nicht groß von einem Aktionskünstler. Weil wir alle nach seinem Plan mitspielen, verspürt der Debatten-Regisseur Sarrazin derzeit so große Freude: Die einen jubeln, die anderen grollen - aber ganz Deutschland springt brav über Sarrazins Stöckchen. Das Kernproblem dieses Buches bleibt: Sarrazin wird vermutlich nichts bewegen. Seine Fans haben sich mal wieder Luft gemacht, seine Gegner stellen ihn mal wieder in die Ecke des Wirrkopfes. Aber auf den Schulhöfen im Kiez ändert sich gar nichts.
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