BERLINER MORGENPOST: Und plötzlich zählt nur noch das Menschsein Michael Miersch über das globale Mitleiden mit den eingeschlossenen Bergleuten in Chile
Berlin (ots)
Der britische Journalist Claud Cockburn gewann in den 30er-Jahren einen legendär gewordenen Wettbewerb unter Kollegen. Die Aufgabe lautete: Wer textet die uninteressanteste Überschrift? Cockburn siegte mit der Zeile: "Kleines Erdbeben in Chile. Nicht viele Tote." Chile, das war zu dieser Zeit für die meisten Menschen in Europa kein Teil ihrer Wirklichkeit. Es war ein exotischer Ort, so irreal wie "Eldorado". Heute fiebern wir der Rettung der Bergleute von San José entgegen und freuen uns wie einst die Generation der Großeltern beim "Wunder von Lengede", als elf durch ein Grubenunglück Eingeschlossene nach zwei Wochen befreit werden konnten. Die Globalisierung hat auch zur globalen Empathie geführt. Und das nicht nur in großen historischen Momenten wie dem Mauerfall, als die ganze Welt mit den Berlinern jubelte. Die Menschheit rückt zusammen. Vorgestern war es bedeutend, ob man Franzose oder Deutscher ist, gestern noch wurde das Mitfühlen nach Hautfarbe dosiert, heute zählt das Menschsein. Dieses zivilisatorische Wachstum wurde von technischen Forschritten verstärkt. Einer davon war die Raumfahrt, die uns Bilder der Erde aus dem All zeigte. Plötzlich war die Eine-Welt-Idee sichtbar. Die elektronischen Medien trugen heftig dazu bei, dass aus Fremden Nachbarn wurden. Kulturelle Abneigung und ethnisches Misstrauen sind nicht ausgestorben. Aber es sind die rückständige Kulturen, die das Trennende aufrechterhalten oder sogar noch vertiefen wollen. Immer mehr Menschen empfinden sich als Teil einer universellen Gattung und sehen die Gefühle und Eigenschaften im Vordergrund, die alle teilen: Lebenslust, Liebe und Humor, Leid und Angst sind überall ähnlich und können mitgefühlt werden. Dass die Menschheit zusammenwächst, war einmal eine Utopie der Linken. "Proletarier aller Länder vereinigt euch", steht auf dem Grabstein von Karl Marx. Zumindest in Momenten der Not und der Freude, sind die Völker heute tatsächlich vereint, und die Interessengegensätze treten zurück. Das war nicht immer so und ist auch heute nicht überall so. Doch immer weniger Menschen lassen sich einreden, dass ihr Leben unbedeutend ist, angesichts von Nation, Religion oder Ideologie. Voraussetzung für die globale Empathie sind jedoch Bilder. Menschliche Tragödien aus Nordkorea oder dem Kongo werden auch heute noch zumeist in Textform übermittelt und dringen dadurch nicht in die Herzen vor. Die Länder, in denen Unterdrückung und Armut für Bilderlosigkeit sorgen, werden weniger. Fast überall auf der Welt hat heute irgendwer ein Kamerahandy dabei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzen Lücken im weltweiten Kommunikationsnetz geschlossen sind. Rund eine Milliarde Menschen verfolgten die Rettung der chilenischen Minenarbeiter per Internet, Radio oder Fernsehen. Ein Freudentag für Chile und für die Welt.
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