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BERLINER MORGENPOST: Der Schuldspruch vor dem Urteil Hajo Schumacher über das Problem der Vorverurteilung bei den Fällen Strauss-Kahn und Kachelmann

Berlin (ots)

Jörg Kachelmann wird die Bilder vom vorgeführten Dominique Strauss-Kahn mit gemischten Gefühlen gesehen haben; der frühere TV-Moderator Andreas Türck vermutlich auch. Wieder so ein Fall, wo ein Mann in knittrigem auf einer Anklagebank hockt, mit grimmig dreinblickenden Wachleuten in der Nähe. Selbst, wenn die Berichte dazu nur von "Vorwürfen" oder "Verdacht" sprechen, so zementieren derlei Bilder bereits das Urteil: so gut wie schuldig. Im Falle Türck stellten die Richter im Jahre 2005 fest, dass ähnliche Vorwürfe nicht zu belegen seien. Eine übereifrige Staatsanwaltschaft war blamiert. Den irreparablen Schaden hatte Türck: Das Brimborium vorweg hatte den Ruf ruiniert, die Fernseh-Karriere war vorbei. Die Beweislage im Fall Kachelmann ist, nach derzeitigem Stand, ebenfalls ziemlich dünn. Sollte es zum Freispruch kommen, hätte er allen Anspruch darauf, dass sein Ansehen repariert wird. Das dürfte, wie im Fall Türck, nicht möglich sein. Das nicht-öffentliche Leben ist längst ausgebreitet, auch wenn jedem Mensch, sogar einem Prominenten, das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre zusteht. Das Stigma bleibt. Auch im Fall Strauss-Kahn ist bislang wenig klar. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um die ein oder andere Ungereimtheit zu entdecken. Die alte Kriminalistenfrage: "Wem nützt´s" beantwortet etwa Nicholas Sarkozy mit triumphalen Auftritten. Wenigen Stunden nach der Verhaftung auf dem New Yorker Flughafen wurde bekannt, dass Frankreichs First Lady Carla Bruni Nachwuchs erwartet. Das muss nichts bedeuten. Feststeht derzeit nur eines: Lassen sich die Vorwürfe gegen Strauss-Kahn auch nicht belegen, so ist die Hinrichtung doch jetzt schon vollzogen. Weder als IWF-Direktor noch als Kandidat für höchste politische Ämter ist der Mann noch vermittelbar. Das festzustellen, hat nichts damit zu tun, Opfer und Täter willkürlich zu verdrehen: Jedem Opfer steht der volle Schutz des Rechtsstaates zu; der Täter verdient die volle Härte des Gesetzes. Doch bis dies festgestellt ist, bleibt die Sache schwierig. Am 12. Dezember 1973 überreichte der deutsche Presserat dem damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann erstmals "Publizistische Grundsätze". In diesem Pressekodex sind bis heute Selbstverpflichtungen enthalten, die nicht nur für die Medien gelten, sondern für allen zwischenmenschlichen Umgang. In Ziffer 13 etwa wird die Unschuldsvermutung gefordert, also die nicht immer leicht zu lebende Fähigkeit, einen Verdächtigen nicht vor dem Richterspruch zu verurteilen. Soweit die Theorie. Andreas Türck hat das Gegenteil erfahren; die Fälle Kachelmann und Strauss-Kahn sind offen. Aber sie bergen schon jetzt Lehrmaterial auch für das Leben. Wie schnell werden Urteile gefällt, über Kollegen, in der Schule, in Familie oder der Wissenschaft? Ein Blick in die Kommentarspalten des Internets gibt einen gruseligen Einblick in das Denken der Alles-Wisser und Sofort-Verurteiler, die fröhlich drauflos richten, je nach Weltbild. Sicher, die Medien haben eine Vorbildfunktion im Umgang mit Persönlichkeitsrechten. Und dabei stehen sie auf einem schmalen Grad zwischen Chronistenpflicht und dem Respekt vor den Persönlichkeitsrechten des Individuums. Aber sie sind zugleich ein Abbild ihrer Nutzer.

Pressekontakt:

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Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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