BERLINER MORGENPOST: Keine schnellen Schlüsse Clemens Wergin über die dramatische Terroristenjagd in Boston und die Folgen
Berlin (ots)
Während diese Zeilen geschrieben werden, ist der zweite Attentäter von Bostoner noch flüchtig und wird von Tausenden Polizisten gesucht. Der Verkehr und das Alltagsleben in der stolzen Stadt sind gänzlich zum Erliegen gekommen, die ganze Welt verfolgt die Fahndung auf Twitter oder im Fernsehen mit. Die Polizei fordert die Fernsehteams auf, die taktischen Positionen der Polizei und die Fahrtrichtung von Konvois nicht zu verraten, um dem Täter keinen Vorteil zu verschaffen. Und während ein Attentäter noch auf der Flucht ist, wird sein Vater in Russland von einem Reporter interviewt und sagt, sein Sohn sei ein "wahrer Engel". Eine solche Terroristenjagd, von den Medien in Echtzeit übertragen, hat es noch nie gegeben. Aber was für Lehren lassen sich nun eigentlich ziehen aus dem Anschlag von Boston, der die Geister der Attacken von 9/11 wieder wachgerufen hat? Bisher lässt sich nur eines sagen: Wenn die tschetschenisch-stämmigen Brüder Tsarnaev das Gesicht des neuen Terrorismus sind, dann handelt es sich um den Albtraum aller Terrorfahnder. Sie wurden seit 2002 in Amerika sozialisiert, bekamen Schulstipedien oder wurden zum "Athleten des Monats" gewählt und schienen nach Aussage von Nachbarn und Freunden nette und gut integrierte Jungs zu sein. Der ältere Bruder wollte sich mit seiner Boxleidenschaft einerseits die amerikanische Staatsbürgerschaft erkämpfen und beschwerte sich andererseits, dass er die Amerikaner nicht verstehe und keine Freunde habe. Irgendwann muss dann wohl eine Hinwendung zum Islam, zu einer eigenen, starken Identität stattgefunden haben. Aber auch das ist in einem solch religiösen Land wie Amerika nicht per se außergewöhnlich. Möglicherweise werden die Ermittler in den kommenden Tagen noch Verbindungen zu Terrornetzwerken auf die Spur kommen. Derzeit sieht aber alles danach aus, als seien die Brüder einsame Wölfe gewesen. Junge Männer, die sich selbst radikalisieren, sich irgendwo im Internet inspirieren und dann zur Tat schreiten. Und die deshalb kaum aufgespürt und aufgehalten werden konnten. Und deren sehr lose biografische Bindung an Tschetschenien alles bedeuten kann: Anstoß zur Radikalisierung oder belangloses Detail ohne Aussagekraft. Und das ist denn auch die zweite Lehre aus dieser Terroristenhatz in Echtzeit: Man sollte sich hüten vor voreiligen Schlüssen. Die neuen technischen Errungenschaften geben uns die Möglichkeit, schneller und umfassender denn je über dramatische Ereignisse informiert zu sein. Und es liegt in der Natur des Menschen, bei solch extremen Taten wie einem Attentat auf ein friedliches Sportereignis sofort die Frage nach dem Warum zu stellen. Aber die lässt sich eben nicht mit einem schnellen Twitter-Feed vom Tatort beantworten. Es wird Wochen, vielleicht Monate brauchen, bis die Ermittler aus kleinen Puzzleteilen Weltsicht, Kontakte und Radikalisierungsweg der Brüder Tsarnaev rekonstruiert haben. Und selbst dann dürfte es schwer fallen zu erklären, warum die Brüder solchen Hass gegen ein Land gehegt haben, dass sie mit offenen Armen empfangen und ihnen alle Chancen eröffnet hat.
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