Krisen-Kaskade im Iran
Nach dem Tod von Präsident Raisi werden die Probleme des Regimes größer
Leitartikel von Michael Backfisch
Berlin (ots)
In Zeiten der Krise verabreichen Autokraten und Alleinherrscher als erstes Beruhigungspillen an die Bevölkerung. Verbreiten sich Unsicherheit und Zweifel, könnte die eigene Herrschaft erodieren. So hielt es auch Irans oberster politischer und religiöser Führer Ali Chamenei, nachdem Präsident Ebrahim Raisi am Sonntag bei einem Hubschrauber-Absturz ums Leben kam. Er rief seine Landsleute auf, weder besorgt noch ängstlich zu sein.
Es war der Versuch, Stabilität vorzugaukeln. Doch das schiitische Mullah-Regime ist weit davon entfernt. Es besteht allenfalls eine Scheinstabilität. Diese wird von der Polizei, den Revolutionsgarden und den ihnen unterstellten Basidsch-Milizen mit brutaler Gewalt hergestellt. Wer gegen die schlechten Lebensbedingungen, für mehr Freiheit oder gegen den staatlichen Kopftuchzwang für Frauen demonstriert, wird zusammengeknüppelt oder getötet.
Über politische Legitimität verfügt die iranische Führung schon lange nicht mehr. Die Parlamentswahl im März wurde von Millionen Bürgern boykottiert. Die Abgeordnetenversammlung besteht fast nur noch aus Hardlinern. Die Opposition ist de facto tot.
Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Iran von einer Krisen-Kaskade erschüttert wird. Das öl- und gasreiche Land leidet seit Jahren an Korruption und wirtschaftlichem Stillstand. Die Inflationsrate kletterte auf mehr als 30 Prozent. Die nationale Währung sank im März auf ein Rekordtief.
Die westlichen Sanktionen haben offenbar eine derart einschneidende Wirkung, dass die Regierung in ihrer Verzweiflung Geheimverhandlungen mit den Amerikanern im Oman führte. Teheran bemüht sich anscheinend, eine Lockerung der wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Zugeständnisse beim eigenen Atom-Programm zu bekommen.
Darüber hinaus hat die innere Sicherheit erschreckende Lücken. Bei einem Anschlag in der Stadt Kerman im Januar wurden mehr als 80 Menschen getötet und über 200 verletzt. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) reklamierte das Attentat für sich. Hinzu kommen immer wieder Aufstände radikaler Sunniten in der Provinz Sistan-Belutschistan.
Auch die Unterstützung der Kriegsparteien im Nahen Osten zehrt an den Kräften. Teheran ist der Haupt-Sponsor der islamistischen Hamas im Gazastreifen. Die schiitischen Stellvertretermilizen im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen werden von den Revolutionsgarden finanziert, ausgebildet und aufgerüstet. Sie führen als Speerspitze des Irans den Kampf gegen Israel und attackieren US-Basen in der Region. Dass die Konfrontationsspirale nach oben offen ist, zeigte im April der Vergeltungsangriff auf Israel mit mehr als 300 ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen.
Das Mullah-Regime hat keine Energie für Modernisierung und Fortschritt. Es erschöpft seine Ressourcen durch brutale Unterdrückung nach innen und Terroraktionen und Krieg nach außen. Seine Scheinstabilität kann es nur mit noch mehr Repression wahren.
Doch die noch ungelöste Nachfolge für den bereits 85-jährigen obersten Führer Chamenei offenbart Risse in den dicken Mauern der schiitischen Theokratie. Möglich, dass sich die Autokratie der Ajatollahs mit einem neuen Gesicht fortsetzen wird. Nicht ausgeschlossen, dass es mittel- und langfristig einen Militärputsch der mächtigen Revolutionsgarden gibt oder dass das System irgendwann kollabiert. Sicher ist nur: Die Probleme des Irans bleiben nicht nur, sie werden größer.
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