Mittelbayerische Zeitung: Ein spätes Zeichen - Die Resolution zum Völkermord an Armeniern wird das Verhältnis zu Ankara belasten. Doch sie war nötig. Von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Aus der Geschichte lernen? So ein Volk es tut, geht es ohne Schmerz nicht ab. Das sagte einst Willy Brandt. Der sozialdemokratische Bundeskanzler war ein Gegner des Naziregimes. Er war vor der Hitler-Diktatur geflohen, in der Millionen Menschen in den Tod getrieben, erschlagen, erschossen, vergast worden waren. Nur weil sie anderen Ethnien angehörten, weil sie anderen Glaubens, anderer sexueller Orientierung waren. Brandt war für diesen Völkermord nicht verantwortlich. Dennoch hat er für diese Verbrechen beispiellosen Ausmaßes mit seinem Kniefall am Denkmal des Warschauer Ghettos um Entschuldigung gebeten. An den furchtbaren Genozid an über einer Million Armeniern während des 1. Weltkrieges im Osmanischen Reich mag Brandt seinerzeit nicht gedacht haben. Das grausame und massenhafte Verbrechen, mit dem das armenische Volk ausgelöscht werden sollte, trägt dennoch Züge der Vernichtungspolitik, wie sie die Nazis nur wenige Jahre später noch grausamer und zahlreicher in ganz Europa verübten. Das deutsche Parlament, das sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder klar zur besonderen geschichtlichen Verantwortung für die Nazi-Verbrechen bekannt hat, hat jetzt nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, zum Völkermord vor 100 Jahren Stellung zu beziehen. Dies in besonderem Maße, weil seinerzeit auch die deutsche kaiserliche Armee in die Verbrechen des Kriegspartners involviert war. Die Mitverantwortung, zumindest das Schweigen über den Völkermord, ist ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte. Die blutige Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika von 1904 bis 1908 war ebenfalls ein Genozid. Die gestrige Resolution des Bundestages war politisch notwendig. Sie war auch ein - freilich spätes - Zeichen moralischer Hygiene, von Mitgefühl mit den Opfern, auch von Eingeständnis deutscher Mitschuld. Ganz sicher jedoch ist die Resolution keine Anklage Deutschlands gegen die Türkei. Sie ist nicht gegen das Volk und nicht gegen seine Führung gerichtet. Auch die Ehre der Millionen in Deutschland lebenden Türken wird damit nicht verletzt. Sie alle sind nicht für den Völkermord verantwortlich zu machen. Dies sollte in der aufgeladenen Atmosphäre nicht vergessen werden. Freilich ist es unter den derzeitigen politischen Verhältnissen und der Stimmungslage am Bosporus lediglich Wunschdenken, wenn auch das türkische Parlament ein solches Zeichen setzen würde. Dennoch, wirkliche Versöhnung mit den Armeniern wird es nur geben, wenn die historische Schuld vorangegangener Generationen anerkannt wird. Dies allerdings ist, solange Präsident Recep Tayyip Erdogan nach immer mehr Macht strebt und an den quasi unbefleckten Gründungsmythos der modernen Türkei anknüpft, fast undenkbar. Die Bundestags-Resolution wird das Verhältnis zu Ankara belasten. Die wütenden Reaktionen türkischer Regierungspolitiker überraschen dennoch wegen ihrer Schärfe. Dass die türkische Führung bis zuletzt versucht hat, Angela Merkel zum Zurückziehen der Resolution zu bewegen, zeigt auch das völlig unterschiedliche Verständnis von Regierung und Gesetzgebung in Berlin und Ankara. Selbst wenn Merkel, die sich in der Böhmermann-Affäre sehr Erdogan-ergeben gezeigt hatte, es gewollt hätte, das selbstbewusste Parlament hätte sich in dieser Frage nicht zurückpfeifen lassen. Zu hoffen bleibt nun, dass Ankara nach einer angemessenen Zeit des Trotzens wieder zur Tagesordnung übergeht. Zwischen der Türkei und Deutschland sowie der gesamten EU gibt es mehr Einendes als Trennendes, nicht nur in der Flüchtlingskrise.
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