Landeszeitung Lüneburg: Europa hat gute Karten
Prof. Klaus Armingeon sagt: Die EU hat den Nobelpreis zu Recht bekommen
Lüneburg (ots)
Schon als die EU vor einer Woche den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam, war klar: Der Jubel währt nur kurz. Längst lief Wolfgang Schäuble mit seinem Vorstoß auf, einen EU-Kontrolleur zu installieren, erntete Frankreichs Präsident Hollande für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten Kopfschütteln, protestieren Griechen wieder. Der Berner Politikprofessor Klaus Armingeon mahnt: "Oft steht die Krise im Vordergrund, dabei müssen die Verdienste der EU gewürdig werden.
Profitiert die Schweiz von der EU oder ist das "Inseldasein" von Nachteil?
Prof. Klaus Armingeon: Derzeit profitiert die Schweiz von der politischen Stabilität und den ökonomischen Chancen, die die EU bietet. Ohne den europäischen Binnenmarkt kann man sich den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz kaum vorstellen. 60 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU und 80 Prozent ihrer Importe kommen aus der EU. Die Schweiz wird nicht in die Hilfsaktionen der EU einbezogen. Die Schweizer Regierung hat nicht die Schwierigkeiten, innenpolitisch Rettungspakete vermitteln zu müssen, wie das etwa die deutsche Bundesregierung muss. Dennoch genießt sie viele Vorteile, die die EU bietet. Im Moment ist ihr Inseldasein für sie außerordentlich vorteilhaft, langfristig kann es zum Problem werden.
Die Schweiz zahlt über zehn Jahre verteilt eine Milliarde Franken an die EU, weil sie von deren Wachstum profitiert. Eine angemessene Summe?
Prof. Armingeon: Die Schweiz stellte auf Bitten der EU seit 2007 eine Milliarde Franken für die neuen mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten zur Verfügung, die direkt an diese Staaten gehen Diese Kohäsionsmilliarde war aber nicht gerade generös, wenn man die vielfachen Leistungen der EU entgegenhält. Die Schweiz profitierte fast zum Nulltarif von der EU. Die jährlichen Zahlungen entsprechen dem Gegenwert von 100 Einfamilienhäuser zu Schweizer Preisen oder zwei Dritteln der Kosten eines derzeit zum Kauf anstehenden Kampfjets. Wäre Spanien zur Diktatur zurückgekehrt oder würden auf dem Balkan weiter Bürgerkriege wüten, würde dies auch die Schweiz beeinträchtigen. Aufgrund ihrer starken wirtschaftlichen Verflechtung ist die Schweiz in gewisser Weise EU-Mitglied. Insofern bekommt die Schweiz viel von Europa und muss wenig geben.
In Deutschland wird derzeit die nächste Erweiterungsrunde mit Kroatien in Frage gestellt. Wo enden Europas Grenzen?
Prof. Armingeon: Eine schwierige Frage. Auch die Türkei hätte ein brennendes Interesse daran, diese Frage geklärt zu bekommen. Bisher nahm die EU einfach so viele Staaten wie möglich auf. Mittlerweile erkennt man die Probleme, die eine rapide Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten erzeugt. Infolgedessen ist man sehr viel kritischer bei jeglichen gewünschten Neuaufnahmen.
Die Türkei klopfte schon an Europas Tür, als Kroatien als Staat noch gar nicht bestand. Soll die EU ein christlicher Club bleiben oder mit der Türkei die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam beweisen?
Prof. Armingeon: Was die EU soll, ist eine Frage, die Politiker beantworten müssen, nicht Politikwissenschaftler. Als Forscher kann ich aber sagen, dass derzeit nicht die innenpolitischen Voraussetzungen für die Aufnahme der Türkei in der EU gegeben sind. Angesichts der starken Ressentiments sowohl in Frankreich als auch in Deutschland werden die betreffenden Regierungen keine Vorstöße in diese Richtung unternehmen. Zudem hat die Türkei noch genug Probleme, die Demokratiekriterien der EU überhaupt zu erfüllen. In der derzeitigen Situation steht die Aufnahme der Türkei demnach nicht in Kürze auf der Tagesordnung.
Verdrängt die Euro-Krise zu Unrecht die historische Leistung, einen über Jahrhunderte von Kriegen geplagten Kontinent befriedet zu haben?
Prof. Armingeon: Es ist zu fragen, ob die EU dies überhaupt geleistet hat. Eine Reihe von Studien kommt zu dem Schluss, dass die EU tatsächlich ursächlich war für Frieden und Stabilität in Europa. Eine zweite Gruppe von Forschern, denen ich mich zuordne, sieht die EU zwar nicht als einzige Ursache für Frieden und Stabilität, aber als ganz wichtigen und stützenden Faktor. Insbesondere war sie zentral bei der Stabilisierung der Demokratie in den früheren südeuropäischen Autokratien Spanien, Portugal, Griechenland und bei der Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten. Hier wurden nicht nur die Demokratie, sondern auch rechtsstaatliche Strukturen gestützt. Das ist eine Leistung, die es zu würdigen gilt und die das Nobelpreis-Komitee zu Recht auch gewürdigt hat. Derzeit beherrscht die massive Krise des Euro-Projektes die Tagespolitik. Deshalb werden Europas Regierungen froh sein, dass Oslo den Scheinwerfer auf die Leistungen der EU gedreht hat.
Hat der alte Kontinent noch die Kraft, zu den Vereinigten Staaten von Europa zusammenzuwachsen oder belebt die Krise den Nationalismus in den Mitgliedsstaaten neu?
Prof. Armingeon: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der alte Kontinent überhaupt zu den Vereinigten Staaten von Europa zusammenwachsen möchte. Der britische Premier David Cameron hat da ganz andere Ideen. Auch andere Regierungen weigern sich, den Grad der Integration weiterzutreiben. Die Probleme bei der Integration sehr heterogener Wirtschaftsräume lässt es tatsächlich geraten erscheinen, bei solchen Schritten sehr vorsichtig zu sein. Nicht zuletzt, weil die EU ihr Zentralproblem, das Fehlen einer demokratisch ausreichend legitimierten und effizienten Entscheidungsinstanz, noch immer nicht gelöst hat.
Ist der Export von Wohlstand die einzige Legitimation Europas?
Prof. Armingeon: Ich denke nicht. Die EU hat zwar den Wohlstand gefördert, aber auch viele andere Leistungen erbracht, die wir nicht vergessen sollten. Der Nationalstaat ist zunehmend an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gekommen, was die Regelung von Problemen angeht, die nicht an den Grenzen des Nationalstaates haltmachen -- beispielsweise Umwelt, Verkehr und Energie. In diesen Bereichen ging dem Nationalstaat die Puste aus, während es der EU gelang, etwas auf höherer Ebene zu koordinieren. Wir reden hier zwar nicht von berauschenden Erfolgen, eher von mittelmäßigen Schritten nach vorn. Aber immerhin: Es waren Schritte nach vorn.
In der Außen- und Sicherheitspolitik spricht Europa mit vielen Stimmen, wie jüngst der gescheiterte Rüstungsdeal EADS/BAE bewies. Fehlt es der heutigen Generation an Strategen von Churchill'schem Format?
Prof. Armingeon: Ich bin skeptisch, ob man die unterschiedlichen Politikergenerationen so miteinander vergleichen kann. Die europäische Politik ist heute und war auch schon zu Churchills Zeiten vor allem ein Verhandlungssystem zwischen nationalen Regierungen. Die Außenpolitik ist ein zentraler Kern nationaler Souveränität, den man nicht leichtfertig aufgibt. Das war früher genauso, insofern gibt es gar nicht so viele Unterschiede.
Welche Szenarien sind zu erwarten, falls Euro und/oder EU scheitern?
Prof. Armingeon: Das ist nicht sicher abzuschätzen. Klar scheint zumindest für Deutschland zu sein: Fällt der Euro weg, bekommt Deutschland massive wirtschaftliche Probleme. Die deutsche Mark als besonders stabile Währung würde massiv aufgewertet werden, was den Export zusammenbrechen lassen könnte - und der Export war in den vergangenen sechs Jahren das Rückgrat des wirtschaftlichen Erfolgs Deutschlands. Das Land könnte schnell auf wirtschaftlich problematische Verhältnisse wie in den 90er-Jahren und zur Jahrtausendwende zurückfallen.
Themenwechsel: Die EU sieht sich gern in der Position, die besseren Werte zu verkörpern. Wie glaubwürdig ist dies angesichts des alltäglichen Migrantendramas im Mittelmeer?
Prof. Armingeon: Diese Selbstwahrnehmung ist in der Tat schwer nachzuvollziehen. Sie wird etwas plausibler, wenn man sich das Spannungsfeld verdeutlicht, in dem Europa handelt. Zum einen fühlt man sich einem Wertekanon verpflichtet, zum anderen müssen offene oder abgeschottete Grenzen innenpolitisch auf nationalstaatlicher Ebene legitimiert werden. Und das ist enorm schwierig angesichts von Fragen, wie viel Migranten das Land aufnehmen kann und angesichts eines relativ klaren Wählerwillens, der das Regierungshandeln sehr stark einschränkt.
Welche Rolle wird Europa im heraufziehenden asiatischen Jahrhundert spielen?
Prof. Armingeon: Das Staatensystem gibt es seit 1648. Seitdem hat Europa eigentlich immer eine wichtige Rolle gespielt. Es ist anzunehmen, dass sie dies auch angesichts des möglichen Aufstiegs der BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien und China an respektabler Position tun wird. Man sollte Europa nicht so schnell abschreiben, weil Europa mehr zu bieten hat als Wachstumsraten. Der Kontinent hat einen enormen Ausstoß von Qualitätsprodukten, einen enormen Pool von Fachkräften und technischen Fertigkeiten sowie funktionierende Institutionen wie Sozialpartnerschaften und Tarifvertragssysteme. Zudem ist Europa ein kulturell vielfältiger und produktiver Kontinent. Insofern sind die Karten Europas gar nicht so schlecht.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell