Nicht nur Biden hat versagt
Raimund Neuß zum chaotischen Abzug aus Afghanistan
Köln (ots)
Kein zweites Saigon. Das sagt US-Außenminister Antony Blinken und verrät damit nur, in welcher Not seine Regierung steckt: Nur bitte kein zweites Saigon, so sehr die fluchtartige Endphase des Nato-Abzugs und die Verzweiflung der Zurückbleibenden auch an das Desaster am Ende des Vietnamkriegs erinnern.
Diese Szenen hat Joe Biden zu verantworten. Der US-Präsident, der den Ruf eines rationalen und verlässlichen Politikers genießt, hat sich furchtbar verrechnet. Nicht die Abzugsentscheidung als solche ist ihm anzulasten. Er steht mit der Einschätzung, dass in Afghanistan auch bei längerem Einsatz nichts zu gewinnen wäre, nicht allein. Vorzuwerfen ist ihm der überstürzte Vollzug. Was war das für eine zynische Kalkulation: Offenbar haben US-Geheimdienste ernsthaft geglaubt, die afghanischen Truppen würden sich in einem wochenlangen Kampf gegen die Taliban aufreiben lassen und so der Nato den Rücken freihalten.
Soweit zu Bidens Rolle, nun zum Versagen der Europäer. Ja, sie sind in Afghanistan auf Gedeih und Verderb von den USA abhängig. Doch müssen sich die Bundesregierung und andere europäische Kabinette vorhalten lassen, dass sie Monate lang Zeit gehabt hätten, eine geordnete Ausreise zu organisieren - für westliche Fachleute, die jetzt in der afghanischen Provinz festsitzen, für Nato-Hilfskräfte und für Menschen aus Afghanistan, die sich für Humanität, Frauenrechte und Medienfreiheit eingesetzt haben. Sie wurden von uns zwei Jahrzehnte lang ermutigt, sich zu exponieren, und sind jetzt in Lebensgefahr. Selbst die Bedrohung der eigenen Botschaftsmitarbeiter hat Außenminister Heiko Maas offenbar zu spät wahrgenommen. Den Soldaten, die jetzt versuchen, möglichst viele Menschen zu retten, gebührt höchster Respekt. Aber sie können, wenn überhaupt, nur denen helfen, die sich bis zum Flughafen Kabul durchschlagen.
Kein zweites Saigon? Afghanistan wird wie einst Vietnam für viele Jahre im Zentrum eines der weltgrößten Flüchtlingsdramen stehen. Nach Blinkens Worten wurde wenigstens das primäre Kriegsziel erreicht, die Zerschlagung von El Kaida. Das stimmt zwar, aber es wäre eine gewagte Annahme, dass die Taliban sich mit dem Terrorisieren der eigenen Bevölkerung und ihrer Rolle als eins der weltgrößten Drogenkartelle - beides schlimm genug - begnügen, ausländischen Islamisten aber die Tür weisen würden. Bis jetzt lassen die USA und ihre Verbündeten kein Konzept erkennen, wie die Taliban-Herrschaft eingehegt werden könnte. Der von Maas angedrohte Stopp der Entwicklungshilfe jedenfalls dürfte ihnen nicht imponieren.
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