CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Merz: Perspektive Europa
Berlin (ots)
Rede des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz MdB beim Fachkongress "Heimat in Europa - Politik für Vertriebene und Aussiedler" am 26. Juni 2002 in Berlin:
"Armes Deutschland!" So schlussfolgerte vor einigen Tagen der Autor eines Kommentars einer namhaften deutschen Tageszeitung um dann zu erläutern, dass die größte Volkswirtschaft Europas ihr Stabilitätsversprechen gegenüber Brüssel nicht erfüllen könne, weil die künftigen EU-Landwirte in Polen, Tschechien und Ungarn Agrarsubventionen bekommen sollten. Was der Autor erst im dritten Satz verriet: Der Befund stammte nicht von ihm selbst, sondern beschrieb die merkwürdige Logik, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am Wochenende zuvor in einem Zeitungsbeitrag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verbreitet hatte. Die Vorlage eines ausgeglichenen Haushalts bis 2004 - so hatte Schröder geschrieben - sei ausgeschlossen, wenn Deutschland als Folge der Osterweiterung 2 Mrd. Euro zusätzlich in die EU-Kasse einzahlen müsse. Daher lehne er den Vorschlag der EU-Kommission ab, den Bauern in Osteuropa schon von 2004 an Direktbeihilfen zu gewähren.
Ich habe dieses Beispiel an den Anfang meiner Ausführungen gestellt, weil es uns mitten hineinführt in das Thema, über das ich sprechen möchte: Perspektive Europa. Die Erweiterung Europas - oder wie uns Helmut Kohl beim Bundesparteitag der CDU vor einigen Tagen so eindringlich gesagt hat: die Vereinigung Europas - wird damit im Grunde in Frage gestellt. Deutschland ist in Verdacht geraten, den Zeitplan für die Erweiterung durch sein kategorisches Nein zur Direktbeihilfen für die Beitrittsländer bewusst zu verzögern.
Damit nicht genug: der Regierungschef des Landes, welches das größte Interesse an dieser Erweiterung hat und das politisch und ökonomisch am meisten von ihr profitiert, kommt in der Maske des Heuchlers daher und erklärt, dass die Einhaltung des Europäischen Stabilitätspaktes und die solidarische Mitfinanzierung der Osterweiterung durch Deutschland unvereinbar seien.
Was Schröder verschweigt, ist die Tatsache, dass der Bundesregierung ein Blauer Brief der EU-Kommission bereits 2002, also zwei Jahre vor den ersten Beitritten ins Haus stand. Die Wahrheit ist: die rot-grüne Bundesregierung hat mit beiden Projekten ihre Probleme, mit dem Stabilitätspakt und mit der Osterweiterung. Und das ist keine Frage der Finanzierbarkeit oder der Einhaltung der Stabilitätskriterien, sondern es ist eine Frage der inneren Einstellung zu Europa! "Armes Deutschland!" Bei so einer Haltung kann man dem anfangs zitierten Kommentar wohl nur zustimmen. Unserer Perspektive von Europa entspricht dies nicht.
Meine Damen und Herren,
die Vereinigung Europas und die Erweiterung der Europäischen Union um die Demokratien in Mittel- und Südosteuropa ist nicht nur ein Anliegen der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union Deutschlands, sondern seit jeher auch ein Anliegen der deutschen Flüchtlinge und der Heimatvertriebenen gewesen. Ich erinnere an die Charta der Heimatvertriebenen vom 05. August 1950: Mit dem ausdrücklichen Verzicht auf Rache und Vergeltung für das unendliche Leid, welches der Zweite Weltkrieg über die Menschheit gebracht hat, erklären die Heimatvertriebenen, "jedes Beginnen mit allen Kräften (zu) unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können." Und weiter heißt es: "Wir werden durch harte unermüdliche Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas teilnehmen."
Natürlich konnten die Initiatoren der Charta von 1950 die Erweiterung der Europäischen Union und ihre finanziellen und ökonomischen Implikationen im Jahre 2002 nicht vorhersehen, aber die Perspektive der Wiedervereinigung Europas war damals wie heute die wohl einzige Option, in die angestammte Heimat zurückkehren zu können oder in diesem Europa eine neue Heimat zu finden.
Was ist Heimat? Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat "der Ort, wo der Mensch seine frühen Sozialisationserlebnisse hat, die seine Identität und seinen Charakter, seine Mentalität, seine Einstellungen und am Ende auch seine Weltauffassungen prägen" (Brockhaus-Enzyklopädie). Heimat ist immer auf die Person bezogen. Völlig zu Recht hat deshalb die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948, in der erstmals auch die Freizügigkeit und das Recht der Rückkehr in die jeweils eigene Heimat gefordert wurde, das Heimatrecht an die Existenz der Person gekoppelt und von der jeweils geltenden besonderen Rechtslage eines Ortes für unabhängig erklärt. Heimat besteht unabhängig von Gesetzen und Dekreten, unabhängig auch von Eigentum und Besitz und unabhängig von einer bestimmten Staatsbürgerschaft.
Und was ist Europa? Eine der besten Definitionen, die ich über Europa gefunden habe, stammt vom früheren polnischen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski: "In der Geschichte der Völker und Staaten dieses Kontinentes", so sagte Bartoszewski bei einer Feierstunde im Deutschen Bundestag 1997 in Bonn, "hat dieser Begriff eine zivilisatorische Bedeutung angenommen. Es wurde zu einem kollektiven Symbol von fundamentalen Werten und Prinzipien. Europa, das bedeutet vor allem die Freiheit der Person, die Menschenrechte - politische und ökonomische. Das ist eine demokratische und von Bürgern getragene Ordnung. Das ist der Rechtsstaat. Das ist die effektive Wirtschaft, die sich auf individuelles Unternehmertum und Initiative stützt. Gleichzeitig ist es die Reflektion über das Schicksal der Menschen und die moralische Ordnung, die den jüdisch-christlichen Traditionen und der unvergänglichen Schönheit der Kultur entspringt. Europa betrachten wir demnach als Zivilisationskreis. Die Zugehörigkeit zu Europa, das ist eine im Laufe der Geschichte bewusst vollzogene Wahl und Fixierung der obigen Werte."
Meine Damen und Herren,
wer sich zu einem solchen Wertefundament bekennt, für den sollte die Verwirklichung des Rechtes auf Heimat in Europa und im besonderen im Europa der Europäischen Union kein Problem darstellen, auch wenn der Begriff der Heimat als Rechtsbegriff in den europäischen Verträgen selbst nicht enthalten ist. Die Verträge über die Europäische Union konstituieren statt dessen die sogenannten Grundfreiheiten: die Freizügigkeit und den freien Personenverkehr, den freien Kapitalverkehr, die freien Dienstleistungen und die Niederlassungsfreiheit - und zwar unter Ausschluss jeder Diskriminierung, wie es im Artikel 183 des EG-Vertrages formuliert ist.
Aber die Klarheit in den europäischen Verträgen schützt nicht vor politischem Streit, wie wir an der neu aufgeflammten Debatte über die sog. Bene_-Dekrete aus dem Jahre 1945 erkennen können. "Kann in einem modernen Europa Platz sein für ein Land, dessen Regierung ethnische Säuberungen billigt?" so fragte kürzlich die Neue Zürcher Zeitung unter Bezug auf die einstimmige Entscheidung des tschechischen Parlamentes, die Bene_-Dekrete nicht aufzuheben.
Spätestens nach den ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien, in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo wissen wir, dass ethnische Säuberungen und Vertreibung als Mittel der Politik auch im modernen Europa immer noch stattfinden.
Unsere Antwort ist darauf völlig klar und unmissverständlich und deswegen haben wir sie auch in unser Regierungsprogramm hineingeschrieben: "Vertreibung und ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Teil der bestehenden Rechtsordnung sein. Die Vertreibungsdekrete und -gesetze sind Unrecht. Sie stehen im Gegensatz zu Geist und Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts. ... Mit einem Zentrum gegen Vertreibung in Berlin wollen wir ein Zeichen setzen, um an das Unrecht der Vertreibung zu erinnern und es für immer zu ächten."
Ich weiß sehr wohl, dass sich weder die bisherige Regierung noch das Parlament in Prag mehrheitlich durch den Ausdruck "Vertreibung" im Zusammenhang mit den Bene_-Dekreten angesprochen fühlt. In tschechischer Interpretation handelt es sich bei der Nachkriegspolitik gegenüber rund 3 Millionen Sudetendeutschen sowie einigen zehntausend Ungarn um "eine Aussiedlung auf der Basis gültiger nationaler Rechtsakte", die mit Billigung der Siegermächte erfolgte. Weiter wird argumentiert, Hitlers brutale Politik gegenüber Prag sowie Vorgeschichte, Verlauf und Ausgang des Zweiten Weltkrieges hätten im Übrigen gar keine andere Möglichkeit offengelassen. Wohl wird eingestanden, dass es zu Exzessen der Gewalt gekommen sei. Doch am Grundsatz, dass die Umsiedlung nicht nur gerechtfertigt, sondern vor allem auch gerecht gewesen sei, ist in Tschechien kaum jemand bereit zu rütteln - "weder im Volk noch bei den Politikern", konstatiert die Neue Züricher Zeitung (NZZ, 01.06.2002)
Vor diesem Hintergrund ist es dann beinahe schon verständlich, dass klare Gesten, wie sie im Aussöhnungsprozess zwischen Polen und Deutschland erfolgt sind, im deutsch-tschechischen Verhältnis bislang ausgeblieben sind. Daran hat letztlich auch die deutsch-tschechische Erklärung aus dem Jahre 1997 nichts geändert. Im Gegenteil. Die Verallgemeinerungen des ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten vom Anfang dieses Jahres, aber auch Äußerungen seines Nachfolgers, der die Vertreibung einmal als "Quelle des Friedens im Nachkriegseuropa" charakterisierte und damit seinen Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit des tschechischen Geschichtsbildes in Europa verband, hat nicht nur die Sudetendeutschen provoziert.
Die Äußerungen waren eine Provokation für jeden Bürger, der die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft ernst nimmt.
Die Frage, ob die Bene_-Dekrete als Teil der Rechtsordnung der Republik Tschechien mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar sind, darf sich auch nicht allein darauf beschränken, ob die Bene_-Dekrete heute noch eine diskriminierende Wirkung entfalten oder nicht. Der politische Streit hierüber wird letztlich weder durch ein entsprechendes Gutachten des Europäischen Parlamentes noch der Kommission zu schlichten sein.
Es geht bei dieser Frage eben nicht allein um eine juristische Bewertung. Viel problematischer ist aus meiner Sicht, dass gewählte Parlamentarier und Verantwortliche in der tschechischen Regierung das Unrecht und das unendliche Leid der Vertreibung und Enteignung auf der Grundlage der Bene_-Dekrete im Jahre 2002 politisch immer noch verteidigen.
In einem vereinten Europa können wir der tschechischen Republik die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der Bene_-Dekrete nicht ersparen. Es ist die Aufgabe der tschechischen Regierung und des tschechischen Parlamentes, die eigene Rechtsordnung mit dem EU-Recht in Einklang zu bringen. "Die europäische Gesellschaft ist eine offene Gesellschaft'", hat Wladyslaw Bartoszewski in der bereits zitierten Rede gesagt. "Völker, die zum geographischen Europa gehören, können sich höchstens selbst aus der europäischen Zivilisationsgemeinschaft isolieren..." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich zurückkommen zur Osterweiterung der Europäischen Union. Aus unserer Sicht ist die Osterweiterung eine einmalige historische Chance, nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 nunmehr auch die Einigung Europas zu vollenden. Dies ist eine Aufgabe, der wir uns aus politischer und historischer Verantwortung stellen müssen. Und diese Aufgabe ist natürlich eine ökonomische, auch eine finanzielle Aufgabe. Niemals zuvor sind der Europäischen Union Mitgliedstaaten beigetreten, bei denen das soziale und wirtschaftliche Gefälle so groß war. Aber die Erweiterung darf nicht unter dem Diktat ökonomischer Vorbedingungen verzögert oder gar verhindert werden.
Ich halte deswegen auch die Reduktion der Debatte auf die Frage möglicher Direktbeihilfen für die neuen Mitglieder durch den Bundesfinanzminister und den Bundeskanzler für völlig unangemessen. Klagen des Bundeskanzlers darüber, dass in der Agenda 2000 die Direktbeihilfen für die Landwirtschaft der neuen EU-Mitglieder nicht vorgesehen sind, überzeugen niemanden: schließlich war es die rot-grüne Bundesregierung selbst, die dies auf dem Berliner EU-Gipfel im Frühjahr 1999 im vollen Wissen über die damit verbundene soziale und ökonomische Schieflage mit beschlossen hat. Es ist unredlich, drei Jahre später die Beitrittsländer für dieses Problem verantwortlich zu machen. Die Erweiterung bleibt eben ein Testfall für die Solidarität zwischen den alten und den neuen Mitgliedern. Wer diese Solidarität verweigert, fügt dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union insgesamt schweren Schaden zu.
Heimat in Europa, so lautet der Titel unserer heutigen Veranstaltung.
Lassen Sie mich zu diesem Thema abschließend noch einige wenige Bemerkungen zur Debatte über die Zukunft der Europäischen Union und zu den Ergebnissen des Europäischen Rates am vergangenen Wochenende in Sevilla machen.
Wie Sie wissen, hat der Europäische Rat in Laeken einen Konvent einberufen, der die Regierungskonferenz im Jahre 2004 vorbereiten und den Weg zu einer europäischen Verfassung ebnen soll. Seine Aufgaben sind: eine genauere Abgrenzung bei Zuständigkeiten und Aufgabenteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten; eine Klärung der Frage, ob die im Jahre 2000 erarbeitete Grundrechts-Charta der Europäischen Union Bestandteil des EU-Vertrages werden und damit für alle Bürger Europas rechtsverbindlich sein soll; darüber hinaus die Vereinfachung der europäischen Verträge - und schließlich die Klärung der Rolle der nationalen Parlamente im künftigen europäischen Integrationsprozess.
Von den beschriebenen Aufgaben des Konventes ist die Neuregelung bzw. die Präzisierung der Kompetenzverteilung zwischen der europäischen und der nationalen Ebene die wichtigste, wahrscheinlich aber auch die schwierigste Aufgabe.
Wir begrüßen es, dass sich die EU-Staaten in Sevilla jetzt auf eine engere Zusammenarbeit zum Schutz gegen Schlepper- und Schleuserkriminalität an den Außengrenzen der Europäischen Union verständigt haben, weil die zukünftigen Mitgliedstaaten allein mit dieser Aufgabe überfordert wären. Diese Entscheidungen werden uns dem europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen wichtigen Schritt näher bringen. Auch die Reform der Arbeitsweise des Europäischen Rates und die deutliche Straffung der Arbeit der Ministerräte wird von uns unterstützt, denn sie entspricht langjährigen Unionsforderungen.
Wir wünschen uns eine echte europäische Exekutive, aber wir wollen gleichzeitig, dass die Bürger in europäischen Wahlen über diese Exekutive mitentscheiden und sie im Falle des Versagens auch verantwortlich machen können.
Der Aufbau Europas ist also noch längst nicht abgeschlossen. An dem bisher Erreichten haben die Vertriebenen großen Anteil, denn sie haben sich von Beginn an in den Dienst der Vereinigung Europas gestellt. Hierfür gebührt ihnen unser aller Dank. Die deutschen Heimatvertriebenen und die deutschen Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa haben auch heute eine unverzichtbare Brückenfunktion bei der Zusammenarbeit mit Deutschlands östlichen Nachbarstaaten. Es ist unsere Verantwortung, dass die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit ohne jede Diskriminierung auch und gerade für die Vertriebenen gilt.
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