Merkel: Das Verhältnis von Bürger und Staat neu austarieren
Berlin (ots)
Die Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Angela Merkel MdB, hat zum Beginn des Neuen Jahres folgenden Brief an die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gerichtet:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Feiertage sind vorbei und vor uns, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, liegt ein Jahr voller Herausforderungen und Arbeit. Wir werden am erfolgreichsten sein, wenn es uns zuerst einmal gelingt, unsere Wahlkämpfer in Hessen und Niedersachsen zu unterstützen und unseren Beitrag dazu zu leisten, dass Roland Koch Ministerpräsident bleiben kann und Christian Wulff Ministerpräsident wird. Ebenso haben auch die Wahlkämpfer für die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein und für die Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft unsere Unterstützung verdient. Und natürlich werden wir alles tun, um im Herbst bei den Landtagswahlen in Bayern hervorragend abzuschneiden.
Dennoch werden unsere Aufgaben für das Jahr 2003 weit darüber hinausgehen, denn in diesem Jahr werden wir in den Parteien und in der Bundestagsfraktion die programmatischen Weichen für die gesamte Legislaturperiode stellen. Wir werden unsere Rolle als größte Oppositionsfraktion, Wächter gegenüber der Bundesregierung zu sein, ernst nehmen. Dazu müssen wir mit all unserer Kraft dafür Sorge tragen, dass die drängenden Probleme unseres Landes im Parlament nicht nur debattiert, sondern dass endlich dauerhaft tragfähige Lösungen vorgelegt werden. Das Jahr 2003 bietet uns alle Chancen, denn der Bundesregierung sind ihre Eröffnungszüge völlig missraten.
Wächter zu sein heißt zuallererst, darauf zu achten, dass die Situation unseres Landes nüchtern analysiert wird. Das Schein-Argument, der Überbringer einer schlechten Nachricht rede verbotenerweise das Land schlecht, will in Wahrheit Versagen vertuschen und Verantwortung unkenntlich machen. Wir weisen es zurück.
Zu den Tatsachen gehört, dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum in Europa Schlusslicht ist, dass unser Bildungssystem insgesamt nicht den Anforderungen unserer Zeit entspricht, dass wir auf den demografischen Wandel unzureichend vorbereitet sind, dass die Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht gewahrt wird, dass die Arbeitsstunden teurer als in vergleichbaren Industrieländern sind, dass die steuerliche Belastung zu hoch und die Regulierungen unseres täglichen Lebens zu dicht sind. Ebenso gilt, dass unsere Strukturen der inneren und äußeren Sicherheit eine nachhaltige Bekämpfung des Terrorismus als der neuen Herausforderung nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht ausreichend gestatten.
Diese Liste ließe sich leider beliebig fortsetzen. Sie findet zudem ihren Niederschlag in mittelmäßigen bis schlechten Bewertungen unseres Landes bei internationalen Vergleichen. Davor die Augen zu verschließen, hieße, eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben. Die Missstände sind auch nicht wie die sieben Plagen über das scheinbar gut regierte Land gekommen. Sie sind vielmehr im Kern Folge gravierender rot-grüner Fehlentscheidungen und Unterlassungen der Regierung Schröder. Darauf werden wir immer wieder hinweisen. Denn nur so wird die zentrale Ursache sichtbar, die Orientierungslosigkeit und inhaltliche Beliebigkeit des Bundeskanzlers und SPD-Parteivorsitzenden.
Allerdings: So wenig wie wir uns den Mund verbieten lassen, wenn es um die Beschreibung der Probleme unseres Landes geht, so wenig werden wir in Pessimismus verfallen. Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als die richtige Antwort auf die globalen Veränderungen auf dem Weg von der Industrie- in die Wissensgesellschaft. Um die richtigen Antworten zu finden, brauchen wir in allen gesellschaftlichen Bereichen eine neue Austarierung des Verhältnisses vom Einzelnen zum Staat.
Dazu helfen uns unsere programmatischen Grundpositionen. Wir sind überzeugt von der Fähigkeit des Menschen zu eigenverantwortlichem Verhalten. Gewinnen wir aus dieser Erkenntnis den Mut, dem Bürger wieder mehr Freiheit zurückzugeben, damit er sein Glück selbst gestaltet! Wir sind ebenso überzeugt von der sozialen Natur des Menschen. Gewinnen wir daraus das Vertrauen, dass die Menschen sich im Prinzip aus freien Stücken und gerne um ihre Familien, die Einwohner um ihre Gemeinden, die Arbeitenden sich um ihren Betrieb kümmern! Der Staat soll helfen, nicht aus der Hand nehmen. Wir sind der Überzeugung, dass fairer Wettbewerb in aller Regel mehr Gerechtigkeit schafft als es Bürokratie und Behörden vermögen. Also bieten wir die Kraft auf, den Menschen einen fairen Wettbewerb zuzumuten und Leistung, Kreativität und Selbstbestätigung freizusetzen! Die Union besitzt für die Erfordernisse unserer Zeit einen programmatischen Vorsprung. Aber dieser Vorsprung muss immer wieder neu erarbeitet werden. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen auch als Opposition der Motor der umfassenden notwendigen Veränderungen sein.
Im Dezember ist es uns beim Niedriglohn auf der Grundlage unseres Regierungsprogramms gelungen, nicht nur das Gesetz über die Scheinselbständigkeit quasi wieder abzuschaffen, die einfachen Zuverdienstmöglichkeiten bis 400 ¤ wieder einzuführen, sondern - als eine strukturell neue Antwort auf die Anforderungen insbesondere der Dienstleistungsbranche - auch einen Niedriglohnsektor von 400 Euro bis 800 Euro zu schaffen, durch den mittels niedrigerer Lohnnebenkosten Tätigkeiten aus der Schwarzarbeit wieder in die Legalität zurückgeholt werden können. Das ist ein qualitativer Beitrag, um endlich wieder mehr Beschäftigung zu erreichen. Die Hartz-Gesetze sind damit in wesentlichen Teilen zu Unions-Gesetzen geworden! Aber wir werden weitere Schritte entwickeln müssen, die auch über die Antworten in unserem Regierungsprogramm hinausgehen. Wo liegen die Schwerpunkte unserer Arbeit?
1. Die Veränderung der Arbeitswelt wird in den nächsten Jahren andauern. Globalisierung heißt ja nichts anderes, als dass sich unsere Unternehmen in einem permanenten weltweiten Wettbewerb befinden. Dieser Wettbewerb wirkt auf die unterschiedlichen Branchen und Hersteller in sehr verschiedener Form. Deshalb brauchen wir, abweichend vom Flächentarifvertrag, flexible Regelungen für einzelne Unternehmen, wenn es um die Sicherung der Beschäftigung geht. Unsere Antwort sind betriebliche Bündnisse für Arbeit zur Beschäftigungssicherung. Den Tarifparteien bleibt in diesen Fällen lediglich ein begründetes Einspruchsrecht.
Ebenso dringend erforderlich ist es, für kleine und mittelständische Unternehmen Bürokratiehemmnisse abzubauen. Dazu werden wir Anfang des Jahres weitergehende Vorschläge entwickeln. Unser Ziel muss es sein, dass, wie in anderen Ländern auch, neue Beschäftigung bei einem Wirtschaftswachstum von deutlich weniger als 2 Prozent entsteht. Heute sind dazu in Deutschland etwa 2,5 Prozent notwendig. Dies wird nur gelingen, wenn eine umfangreiche Deregulierung durchgesetzt wird und gleichzeitig die Maxime gilt, dass jemand, der arbeitet, mehr haben muss, als wenn er nicht arbeitet. Das erfordert eine schnellstmögliche Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe und die Pflicht für jeden Arbeitsfähigen, nachzuweisen, dass er sich auch wirklich um Arbeit bemüht. Es ist ein Skandal, dass das hessische Offensivgesetz bis heute von Rot-Grün verhindert wurde, denn es würde den Ländern Spielräume eröffnen, effektivere Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Arbeitsunwilligen zu erproben.
2. Dreh- und Angelpunkt bleibt eine Politik für mehr Wachstum und damit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dazu gilt unverändert unser Ziel "3 mal 40", das für niedrigere Steuern, niedrigere Sozialabgaben und weniger Staat steht. Es dient als Orientierungsmarke, sozusagen als politisches Leuchtfeuer. Rot-Grün hat auf solche nachprüfbaren Zielmarken von Anfang an verzichtet und ist deswegen bei jeder unvorhergesehenen Herausforderung, sei es die Bewältigung der Terrorgefahren, der Flutschäden oder der Wachstumsschwäche, vom Weg abgekommen. Wir wollen die Wegstrecke mit konkreten Schritten ausfüllen und sind bereit, uns auf ein jährliches Benchmarking einzulassen, wie weit wir vorangekommen sind. Dazu brauchen wir:
- ein Steuersystem, das für die Menschen verständlich ist und dem Einzelnen mehr Geld zur Lebensgestaltung lässt. Nur so lohnen sich in den Augen der Bürger Leistung und Engagement. Die Vorschläge von Paul Kirchhoff sind dabei wegweisend. Fünfzehn bis vierzig Prozent Steuersatz und die strenge Überprüfung sämtlicher Ausnahmetatbestände stehen stellvertretend für einen gerechten, einfachen und nachvollziehbaren steuerpolitischen Ansatz. Nur mit einem großen Reformentwurf schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass der Einzelne für die eigenen Lebensrisiken mehr Eigenvorsorge treffen kann. Genau das aber ist Kernelement eines neuen Verhältnisses von Bürger und Staat. Rot-Grün hat diesen unauflöslichen Zusammenhang nie verstanden.
- Wir müssen die Sozialsysteme so umbauen, dass die Gesamtbelastung der Bürger und Unternehmen nicht mehr als 40 Prozent der Lohnkosten ausmacht. Das wird auch bei zusätzlichem Wachstum nicht ohne mehr Eigenvorsorge möglich sein. Niedrigere Steuersätze und größere Beschäftigungschancen werden die Menschen dazu in die Lage versetzen.
- Dabei steht unser Gesundheitssystem vor den schwerwiegendsten Problemen. Zum einen müssen wir durch mehr Markt dafür Sorge tragen, dass die Dynamik im Gesundheitssektor sich auch in Deutschland besser entfalten kann. Zum anderen müssen wir darauf reagieren, dass in unserer alternden Gesellschaft die medizinischen Kosten ansteigen werden. Die Qualität unserer öffentlichen Gesundheitsversorgung werden wir nur erhalten, wenn der Patient als Beteiligter mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten erhält und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Die Bundesgesundheitsministerin hat von alldem nichts verstanden. Die vor Weihnachten verabschiedeten Strukturgesetze sind rein planwirtschaftlicher Herkunft. Unter diesen Bedingungen mutet es für Ärzte, Pfleger und Patienten geradezu zynisch an, wenn am Tage der Gesetzesverabschiedung ein genau gegensätzliches Papier aus dem Kanzleramt lanciert wird. Hier wird vor allem mediale Imagepflege betrieben und versucht, mit schöner Rhetorik von den realen Taten abzulenken.
- Die heutigen Regelungen zur Rente sind mittelfristig nicht generationengerecht. Nur eine ehrliche Beschreibung des demografischen Wandels, wie wir es mit einem demografischen Faktor erreichen wollen, vermag den Generationen, die in 15, 20 oder 30 Jahren in den Ruhestand treten, Verlässlichkeit in der Alterssicherung zu geben. Die heutige Rentner-Generation, der ein hohes Maß an Sicherheit garantiert ist, muss Verständnis dafür aufbringen, dass die jüngere Generation Anspruch auf ein ebensolches Maß an Verlässlichkeit hat. Ich bin überzeugt, dass diese Einsicht bei den Älteren bei einer ehrlichen, berechenbaren Politik in hohem Maße vorhanden wäre. Uns allen sollte klar sein: Die anstehende Rentenreform muss dauerhaft tragfähig sein, oder die Versicherten werden unserem Rentensystem das existenznotwendige Vertrauen entziehen.
- Zu den Prioritäten dieser Legislaturperiode gehört eine neue Familiengerechtigkeit beim Umbau von Steuern und sozialen Sicherungssystemen. Denn es zählt zu den größten Ungerechtigkeiten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass sich die materielle Situation von Familien mit Kindern im Vergleich zu Alleinlebenden immer weiter verschlechtert hat. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Das Familiengeld kann dabei nur ein Baustein sein. Die Erziehungsaufgabe von Kindern bleibt nach unserem Verständnis ureigenste Aufgabe der Eltern. Die öffentliche Infrastruktur für Familien muss allerdings deutlich verbessert werden.
- Die Senkung der Staatsquote auf 40 Prozent ist ein ehrgeiziges und sicherlich nur in einem Jahrzehnt erreichbares Ziel. Sie bleibt aber die einzige Möglichkeit, individueller Dynamik in Deutschland wieder eine Heimat zu geben. Der Staat muss sich aus den Aufgaben zurückziehen, die der Einzelne oder private Anbieter ebenso oder besser leisten kann. Ehrgeiz und Fleiß - zwei Eigenschaften, die nach der letzten Shell-Studie besonders bei jungen Leuten hoch im Kurs stehen - können nur in einem Gemeinwesen zur Geltung kommen, das die Eigeninitiative nicht erstickt, sondern die schöpferischen Kräfte fördert und damit den Wert der Freiheit achtet. Letztlich bedeutet die Höhe der Staatsquote ein Maß dafür, inwieweit wir dem einzelnen Menschen zutrauen, etwas für sich und andere zu leisten. Es ist deshalb blanker Unsinn, eine Senkung der Staatsquote als Entsolidarisierung der Gesellschaft zu verleumden. Im Gegenteil: Nur so werden Wachstum und Solidarität dauerhaft gesichert werden können.
3. Zukunftsfähig wird unsere Gesellschaft nur, wenn wir die Bedeutung von Bildung und Forschung erheblich vergrößern. Dies muss auch für die Arbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gelten, unabhängig aller Zuständigkeitsdebatten im Lande. Wir dürfen es der Bundesregierung nicht durchgehen lassen, dass erstens PISA, also das Problem der Qualität, zweitens die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, also die Frage der Kinderbetreuung, und drittens sozialdemokratische Traditionsdogmen, also der Kampf gegen das gegliederte Schulwesen, vermengt werden, um unter den Stichworten "Bundesschulgesetz" und "Ganztagsschule" de facto die GEW-Gesamtschule als flächendeckende Antwort auf alle Probleme anzubieten. Gemeinsame Bildungsstandards für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland, wie sie jetzt endlich von den Unionskultusministern durchgesetzt werden konnten, aber unterschiedliche Wege ihrer Realisierung - das bleibt unser Credo. Die Erfahrungen der unionsgeführten Länder zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Offensiver müssen wir für die Veränderung unseres Hochschulsystems eintreten. Hochschulen müssen wieder Orte der Identifikation von Studenten mit ihren Lehrern werden. Da hilft kein Verbot von Studiengebühren, sondern hier brauchen wir mehr Möglichkeiten des Wettbewerbs: Abschaffung der ZVS, Auswahl der Studenten durch die Universitäten, Wissenschaftstarife mit mehr Flexibilität, als sie der öffentliche Dienst erlaubt. Wenn dabei intelligente Stipendien- und Gebührensysteme die Kraft der Hochschulen stärken, müssen sie möglich werden. Ebenso wird es unsere Aufgabe sein, Strukturen für das lebenslange Lernen zu entwickeln, denn nur so können wir in einer alternden Gesellschaft die notwendige Dynamik für Innovationen in unserem Lande erhalten.
4. Innovationen setzen eine verlässliche Politik des Staates für Investitionen in Wissenschaft und Forschung voraus. Es ist geradezu fahrlässig, wie wenig Verlässlichkeit für zukunftsfähige Forschungsbereiche Rot-Grün vermittelt. Der Erfolg des Transrapid in China verdeckt, dass die Bundesregierung seine technologische Erprobung und Umsetzung in Deutschland grob vernachlässigt und damit ein Paradebeispiel deutscher Zukunftstechnologie mutwillig gefährdet hat.
Aber auch in unseren eigenen Reihen verdienen Forschung und wissenschaftliche Innovationen ein verstärktes Augenmerk. Mit welchen Technologien wollen wir in Deutschland in Zukunft unser Geld verdienen? Unsere Stärken im Automobil- und Maschinenbau und in der chemischen Industrie müssen wir pflegen und dürfen sie nicht als selbstverständlich ansehen. Geradezu abenteuerlich erscheint mir der Umgang mit der pharmazeutischen Industrie und der grünen Gentechnologie. Eine moderne Gesellschaft, die ihren Wohlstand erhalten und mehren will, darf die Kenntnisse über wissenschaftliche Entwicklungen nicht einem kleinen Kreis von Fachleuten überlassen, sondern muss die Debatte in die Mitte der Gesellschaft tragen. Dafür ist der Bundestag der richtige Ort.
So wie wir uns richtigerweise mit den ethischen Grenzen der Gentechnologie beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden - ein internationales Verbot nicht nur des reproduktiven Klonens von Menschen, sondern auch des therapeutischen Klonens duldet keinen Aufschub - so muss die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugleich auch wieder sichtbarer ein Ort der Förderung von Wissenschaft und Technologie werden. Ein Land, das zuerst immer die Risiken debattiert und dabei Chancen verpasst, wird am weltweiten Wachstum nicht teilhaben.
All die genannten Punkte dienen der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, dem Erfolgsmodell der Bundesrepublik Deutschland, unter veränderten Bedingungen. Sie werden nach meiner festen Überzeugung nur gelingen, wenn wir der Freiheit des Einzelnen wieder einen breiteren Raum geben und staatliche Allmachtsvorstellungen zurückdrängen. Dies muss der ordnungspolitische Leitfaden unseres Handelns sein. Allerdings: So wie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, die Rolle des Staates zurückgenommen wird, wird dem Staat an anderer Stelle, vor allem bei der inneren und äußeren Sicherheit, eine wachsende Rolle zukommen.
Mit beiden Elementen, Rücknahme hier, Stärkung dort, wollen wir nicht den schwachen, sondern den starken Staat. Ein Staat, der stark ist, weil er schlank, schnell, flexibel, effizient und durchsetzungsfähig ist. Ein Staat, der stark ist, weil seine Bürger sich selbst stark genug fühlen und ihr Gemeinwesen nicht überfordern müssen. Leistungsfähig fühlen sich die Bürger, wenn ihnen genügend Freiräume gelassen werden. Für die Wahrung dieser Freiräume bedarf es freiheitssichernder Institutionen. Jede Regierung tut gut daran, die zentralen Institutionen unseres Gemeinwesens, Parlamente, Gerichte, Kommunen, die eigenen Staatsdiener, aber auch Ehe und Familie zu achten und zu schützen, will sie nicht an dem Ast sägen, auf dem sie selber sitzt. Für die Bereitschaft des Bürgers zu verantwortlicher Ausübung seiner Freiheit bedarf es zudem der ganz handfesten physischen Sicherheit. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.
5. Wir alle spüren, dass die Erosion gesellschaftlicher Normen, Werte und Bindungen in Problemregionen zu mehr Kriminalität und Verwahrlosung führen. Offene Grenzen und moderne Technologien bringen neue und gefährlichere Formen von Rechtsbruch und Unsicherheit. Sollten die Bürger den Eindruck erhalten, der Staat könne ihre Sicherheit nicht mehr ausreichend schützen, wäre schnell einer der Legitimitätspfeiler bedroht, auf denen der Staat und sein Gewaltmonopol aufbauen. Ob es um Identitätsfeststellung, Überwachung von kriminellen Strukturen mit modernen Technologien, den Austausch von sicherheitsrelevanten Daten oder die politische Rückendeckung für die Polizei geht: Nirgendwo in Deutschland wird zu viel für die innere Sicherheit getan, aber an vielen Stellen wegen veralteter Dogmen und falsch verstandener Toleranz zu wenig. Die Dimension und Qualität gerade der terroristischen Bedrohungen muss die Union zu neuen Überlegungen hinsichtlich schlagkräftiger Sicherheitsstrukturen und einem seriösen, tabufreien Zivil- und Katastrophenschutz veranlassen.
6. Schwer gesündigt worden ist in den letzten Jahren bei der äußeren Sicherheit Deutschlands, die sich zudem immer schwerer von unserer Sicherheit im Inneren trennen lässt. Das hat uns der 11. September 2001 bitter gelehrt. Die unglaubliche Diskrepanz zwischen Worten und Taten der rot-grünen Bundesregierung in der Verteidigungspolitik und der Isolationskurs in der Irak-Frage stellen alle politisch verantwortlichen Kräften in den kommenden Jahren vor drei zentrale, drängende Fragen:
- Wie kann Deutschland endlich die einsatzfähigen militärischen Einheiten bereitstellen, ohne die die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht funktionieren wird? Wie können wir technologisch überhaupt noch halbwegs modern und bündnisfähig bleiben? An der Erkenntnis, dass es dazu dauerhaft mehr finanzielle Mittel braucht, führt kein Weg vorbei. Die Union ist die einzige Partei, die diese nicht gerade populäre Wahrheit anzuerkennen wagt.
- Wie können wir unter neuen Bedrohungslagen und veränderten Bundeswehrstrukturen die Beteiligung der Bürger an der Wahrung der Sicherheit ihres eigenen Landes nicht nur finanziell, sondern auch persönlich erhalten? Eines muss uns klar sein: Wer die Bundeswehr aus der Mitte unserer Gesellschaft verschwinden lässt, der wird am Ende die Bundeswehr selbst verschwinden sehen. Und von manchem ist das auch beabsichtigt. Die Union wird bei allen notwendigen Reformen darauf achten, dass Deutschland eine im Volk verankerte Armee behält.
- Die drängendste Frage aber lautet, wie die Staatsführung dieses Landes wieder das Vertrauen bei unseren Partnern und Verbündeten gewinnen und damit in Zukunft wieder mit ruhigem Gewissen den eigenen Bürgern garantieren kann: Sollte es einmal wirklich ernst werden, dann steht dieses Land nicht einsam und verlassen gegen die Gefahren der Welt. Für die Union gibt es deswegen kein Wanken bei der Unterstützung aller völkerrechtlich akzeptablen Maßnahmen gegen die große Bedrohung, die von Saddam Hussein und seinen Massenvernichtungswaffen ausgeht.
7. Eine der vornehmsten Aufgaben eines staatlichen Gemeinwesens ist es, Zuwanderung und Integration zu regeln und zu steuern. Es ist mehr denn je Aufgabe des Staates, klarer festzulegen, wer unter welchen Bedingungen in Zukunft mit Rechten und Pflichten dauerhaft zum Gemeinwesen hinzukommt, und strikter für die Einhaltung dieser Bedingungen zu sorgen. Wer Zuwanderung und das Zusammentreffen von Zugewanderten und Einheimischen de facto einfach geschehen lässt, der handelt nicht liberal, sondern gefährdet Toleranz und Integration und damit letztlich den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Union weiß sich in ihren Positionen mit der großen Mehrheit der Menschen in Deutschland einig und wird deswegen ungeachtet alles veröffentlichten Meinungsdrucks keiner Regelung zustimmen, die von den Menschen wegen der irreversiblen Folgen nicht aufrichtig akzeptiert würde. Wir nehmen für uns in Anspruch, nüchterner, weitsichtiger und verantwortungsbewusster zu handeln, als dies vielen anderen aus Einzelinteressen oder ideologischen Antrieben heraus gelingt.
8. Wenn wir die Aufgaben des Staates einer Inventur unterziehen, dann gilt dies nicht nur für den Nationalstaat, sondern ebenso sehr für die Europäische Union. CDU und CSU treten mit Überzeugung für die politische Union Europas ein, weil sie sowohl historischer Auftrag wie zukunftsgerichtete Notwendigkeit ist. Ohne sie werden die Länder Europas auf Dauer weder ihren Wohlstand noch ihre Sicherheit erhalten können. Jede Union ist aber nur so stark wie ihr schwächstes Glied und darauf angewiesen, dass die gemeinsamen Interessen und Überzeugungen ihrer Völker eine breite, feste Basis bilden. Wer auf dem historischen, kulturellen und geographischen Auge nicht blind sein will, der darf zwar für die Grenzen Europas keine deterministische Antwort geben, aber wird aus heutiger Sicht tiefste Skepsis hinsichtlich eines Beitritts der Türkei zur EU haben. Deshalb halten wir die Entscheidung, der Türkei den Kandidaten-Status einzuräumen, für falsch.
Der Prozess der Vertiefung wird auch nach dem Abschluss der Arbeiten des Verfassungskonvents die zentrale Herausforderung der Europäischen Union sein. Die Vertiefung muss gelingen. Sollte Stillstand drohen, darf der Weg auch über zeitweise verschiedene Entwicklungsgeschwindigkeiten nicht verbaut werden.
9. Die Menschen erfahren täglich in ihrem Leben, in welchem Maße ihr Wohlergehen von globalen Entwicklungen abhängt. Ob Arbeitswelt, Informationsaustausch, Bioethik oder Umweltschutz, es bedarf internationaler Regeln und Institutionen, um die Auswirkungen der Globalisierung überschaubarer, berechenbarer und nutzbringender zu gestalten. Ölpest, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und geklonter Mensch - sie halten uns in diesen Tagen eindringlich vor Augen, dass auf den Staat wesentliche Aufgaben auch über Kontinente und Ozeane hinweg zukommen. Dabei geht es nicht um die Utopie einer umfassenden Weltstaatsmacht, die wohl entweder ohnmächtig oder diktatorisch wäre. Es geht um geordneten Wettbewerb, Kooperation zum gegenseitigen Nutzen, Verlässlichkeit des staatlichen Handelns und wirksame Sanktionen gegen Förderer von Terror und Aggression.
Auf die Union kommt die Aufgabe zu, wenn es um Arbeit und Wachstum geht, die Globalisierung den Menschen in Deutschland nicht als unabänderliches Schicksal, sondern als Chance darzustellen; wenn es um Terrorismus und Krieg geht, die Globalisierung nicht als fernab und an Deutschland uninteressiert erscheinen zu lassen; wenn Kapital und Know-How an andere Standorte wechseln, sie nicht als rücksichtslos und kaltherzig, sondern als Ansporn zu verstehen. In all diesem versagt die Bundesregierung.
Im vor uns liegenden Jahr wird die strukturelle und gedankliche Unordnung, in die die Staatswirklichkeit in Deutschland geraten ist, sichtbar wie selten zuvor werden. Weiter ansteigende Arbeitslosigkeit, andauernde Krise aller öffentlichen Haushalte, Attentismus vieler Bürger und Unternehmen, Staatshörigkeit und zugleich Vertrauensschwund in die Gestaltungskraft der Politik rufen zu einer großen programmatischen Kraftanstrengung auf. In unseren Grundsatzentscheidungen für mehr Freiheit, Wettbewerb und Subsidiarität sind wir uns einig. Die Regierungskoalition hingegen ist belastet mit unausgestandenen Richtungskonflikten. Dies schwächt Deutschland.
Es wird die CDU/CSU-Fraktion sein, die dafür Sorge trägt, dass alle politischen Kräfte dieses Landes im Deutschen Bundestag konkret Rede und Antwort zu den großen Fragen unserer Zeit stehen müssen. Dies gilt nicht zuletzt uns selbst. Ich bitte dazu jede Abgeordnete und jeden Abgeordneten, nach seinen besten Kräften mitzuarbeiten. Jeder bringt Wissen und Können mit, die der Fraktion wertvolle Dienste leisten. Der politische Fahrplan für das Jahr 2003 wird in den kommenden Wochen festgelegt. Zentrale Weichenstellungen werden auf der Klausurtagung des Fraktionsvorstandes Anfang Februar erfolgen. Wir haben alle Chancen, als kraftvollste und innovativste politische Kraft in Deutschland das Jahr 2003 zu bestreiten.
Mit den besten Wünschen für einen guten Start ins neue Jahr und in der Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen grüße ich sehr herzlich.
Ihre Dr. Angela Merkel
Rückfragen bitte an:
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Pressestelle
Tel.: (030) 227-52360
Fax: (030) 227-56660
Internet: http://www.cducsu.de
E -Mail: fraktion@cducsu.de
Original-Content von: CDU/CSU - Bundestagsfraktion, übermittelt durch news aktuell