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CDU/CSU - Bundestagsfraktion

Merkel: Das Verhältnis von Bürger und Staat neu austarieren

Berlin (ots)

Die Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Angela Merkel
MdB, hat zum Beginn des Neuen Jahres folgenden Brief an die
Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gerichtet:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Feiertage sind vorbei und vor uns, der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, liegt ein Jahr voller Herausforderungen
und Arbeit. Wir werden am erfolgreichsten sein, wenn es uns zuerst
einmal gelingt, unsere Wahlkämpfer in Hessen und Niedersachsen zu
unterstützen und unseren Beitrag dazu zu leisten, dass Roland Koch
Ministerpräsident bleiben kann und Christian Wulff Ministerpräsident
wird. Ebenso haben auch die Wahlkämpfer für die Kommunalwahlen in
Schleswig-Holstein und für die Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft
unsere Unterstützung verdient. Und natürlich werden wir alles tun, um
im Herbst bei den Landtagswahlen in Bayern hervorragend
abzuschneiden.
Dennoch werden unsere Aufgaben für das Jahr 2003 weit darüber
hinausgehen, denn in diesem Jahr werden wir in den Parteien und in
der Bundestagsfraktion die programmatischen Weichen für die gesamte
Legislaturperiode stellen. Wir werden unsere Rolle als größte
Oppositionsfraktion, Wächter gegenüber der Bundesregierung zu sein,
ernst nehmen. Dazu müssen wir mit all unserer Kraft dafür Sorge
tragen, dass die drängenden Probleme unseres Landes im Parlament
nicht nur debattiert, sondern dass endlich dauerhaft tragfähige
Lösungen vorgelegt werden. Das Jahr 2003 bietet uns alle Chancen,
denn der Bundesregierung sind ihre Eröffnungszüge völlig missraten.
Wächter zu sein heißt zuallererst, darauf zu achten, dass die
Situation unseres Landes nüchtern analysiert wird. Das
Schein-Argument, der Überbringer einer schlechten Nachricht rede
verbotenerweise das Land schlecht, will in Wahrheit Versagen
vertuschen und Verantwortung unkenntlich machen. Wir weisen es
zurück.
Zu den Tatsachen gehört, dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum
in Europa Schlusslicht ist, dass unser Bildungssystem insgesamt nicht
den Anforderungen unserer Zeit entspricht, dass wir auf den
demografischen Wandel unzureichend vorbereitet sind, dass die
Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht gewahrt wird, dass die
Arbeitsstunden teurer als in vergleichbaren Industrieländern sind,
dass die steuerliche Belastung zu hoch und die Regulierungen unseres
täglichen Lebens zu dicht sind. Ebenso gilt, dass unsere Strukturen
der inneren und äußeren Sicherheit eine nachhaltige Bekämpfung des
Terrorismus als der neuen Herausforderung nach dem Ende des Kalten
Krieges noch nicht ausreichend gestatten.
Diese Liste ließe sich leider beliebig fortsetzen. Sie findet
zudem ihren Niederschlag in mittelmäßigen bis schlechten Bewertungen
unseres Landes bei internationalen Vergleichen. Davor die Augen zu
verschließen, hieße, eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben. Die
Missstände sind auch nicht wie die sieben Plagen über das scheinbar
gut regierte Land gekommen. Sie sind vielmehr im Kern Folge
gravierender rot-grüner Fehlentscheidungen und Unterlassungen der
Regierung Schröder. Darauf werden wir immer wieder hinweisen. Denn
nur so wird die zentrale Ursache sichtbar, die Orientierungslosigkeit
und inhaltliche Beliebigkeit des Bundeskanzlers und
SPD-Parteivorsitzenden.
Allerdings: So wenig wie wir uns den Mund verbieten lassen, wenn
es um die Beschreibung der Probleme unseres Landes geht, so wenig
werden wir in Pessimismus verfallen. Denn es geht um nicht mehr und
nicht weniger als die richtige Antwort auf die globalen Veränderungen
auf dem Weg von der Industrie- in die Wissensgesellschaft. Um die
richtigen Antworten zu finden, brauchen wir in allen
gesellschaftlichen Bereichen eine neue Austarierung des Verhältnisses
vom Einzelnen zum Staat.
Dazu helfen uns unsere programmatischen Grundpositionen. Wir sind
überzeugt von der Fähigkeit des Menschen zu eigenverantwortlichem
Verhalten. Gewinnen wir aus dieser Erkenntnis den Mut, dem Bürger
wieder mehr Freiheit zurückzugeben, damit er sein Glück selbst
gestaltet! Wir sind ebenso überzeugt von der sozialen Natur des
Menschen. Gewinnen wir daraus das Vertrauen, dass die Menschen sich
im Prinzip aus freien Stücken und gerne um ihre Familien, die
Einwohner um ihre Gemeinden, die Arbeitenden sich um ihren Betrieb
kümmern! Der Staat soll helfen, nicht aus der Hand nehmen. Wir sind
der Überzeugung, dass fairer Wettbewerb in aller Regel mehr
Gerechtigkeit schafft als es Bürokratie und Behörden vermögen. Also
bieten wir die Kraft auf, den Menschen einen fairen Wettbewerb
zuzumuten und Leistung, Kreativität und Selbstbestätigung
freizusetzen! Die Union besitzt für die Erfordernisse unserer Zeit
einen programmatischen Vorsprung. Aber dieser Vorsprung muss immer
wieder neu erarbeitet werden. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wollen auch als Opposition der Motor der umfassenden notwendigen
Veränderungen sein.
Im Dezember ist es uns beim Niedriglohn auf der Grundlage unseres
Regierungsprogramms gelungen, nicht nur das Gesetz über die
Scheinselbständigkeit quasi wieder abzuschaffen, die einfachen
Zuverdienstmöglichkeiten bis 400 ¤ wieder einzuführen, sondern - als
eine strukturell neue Antwort auf die Anforderungen insbesondere der
Dienstleistungsbranche - auch einen Niedriglohnsektor von 400 Euro
bis 800 Euro zu schaffen, durch den mittels niedrigerer
Lohnnebenkosten Tätigkeiten aus der Schwarzarbeit wieder in die
Legalität zurückgeholt werden können. Das ist ein qualitativer
Beitrag, um endlich wieder mehr Beschäftigung zu erreichen. Die
Hartz-Gesetze sind damit in wesentlichen Teilen zu Unions-Gesetzen
geworden! Aber wir werden weitere Schritte entwickeln müssen, die
auch über die Antworten in unserem Regierungsprogramm hinausgehen. Wo
liegen die Schwerpunkte unserer Arbeit?
1. Die Veränderung der Arbeitswelt wird in den nächsten Jahren
andauern. Globalisierung heißt ja nichts anderes, als dass sich
unsere Unternehmen in einem permanenten weltweiten Wettbewerb
befinden. Dieser Wettbewerb wirkt auf die unterschiedlichen Branchen
und Hersteller in sehr verschiedener Form. Deshalb brauchen wir,
abweichend vom Flächentarifvertrag, flexible Regelungen für einzelne
Unternehmen, wenn es um die Sicherung der Beschäftigung geht. Unsere
Antwort sind betriebliche Bündnisse für Arbeit zur
Beschäftigungssicherung. Den Tarifparteien bleibt in diesen Fällen
lediglich ein begründetes Einspruchsrecht.
Ebenso dringend erforderlich ist es, für kleine und
mittelständische Unternehmen Bürokratiehemmnisse abzubauen. Dazu
werden wir Anfang des Jahres weitergehende Vorschläge entwickeln.
Unser Ziel muss es sein, dass, wie in anderen Ländern auch, neue
Beschäftigung bei einem Wirtschaftswachstum von deutlich weniger als
2 Prozent entsteht. Heute sind dazu in Deutschland etwa 2,5 Prozent
notwendig. Dies wird nur gelingen, wenn eine umfangreiche
Deregulierung durchgesetzt wird und gleichzeitig die Maxime gilt,
dass jemand, der arbeitet, mehr haben muss, als wenn er nicht
arbeitet. Das erfordert eine schnellstmögliche Zusammenlegung von
Sozial- und Arbeitslosenhilfe und die Pflicht für jeden
Arbeitsfähigen, nachzuweisen, dass er sich auch wirklich um Arbeit
bemüht. Es ist ein Skandal, dass das hessische Offensivgesetz bis
heute von Rot-Grün verhindert wurde, denn es würde den Ländern
Spielräume eröffnen, effektivere Sanktionsmöglichkeiten gegenüber
Arbeitsunwilligen zu erproben.
2. Dreh- und Angelpunkt bleibt eine Politik für mehr Wachstum und
damit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dazu gilt unverändert unser
Ziel "3 mal 40", das für niedrigere Steuern, niedrigere Sozialabgaben
und weniger Staat steht. Es dient als Orientierungsmarke, sozusagen
als politisches Leuchtfeuer. Rot-Grün hat auf solche nachprüfbaren
Zielmarken von Anfang an verzichtet und ist deswegen bei jeder
unvorhergesehenen Herausforderung, sei es die Bewältigung der
Terrorgefahren, der Flutschäden oder der Wachstumsschwäche, vom Weg
abgekommen. Wir wollen die Wegstrecke mit konkreten Schritten
ausfüllen und sind bereit, uns auf ein jährliches Benchmarking
einzulassen, wie weit wir vorangekommen sind. Dazu brauchen wir:
  • ein Steuersystem, das für die Menschen verständlich ist und dem Einzelnen mehr Geld zur Lebensgestaltung lässt. Nur so lohnen sich in den Augen der Bürger Leistung und Engagement. Die Vorschläge von Paul Kirchhoff sind dabei wegweisend. Fünfzehn bis vierzig Prozent Steuersatz und die strenge Überprüfung sämtlicher Ausnahmetatbestände stehen stellvertretend für einen gerechten, einfachen und nachvollziehbaren steuerpolitischen Ansatz. Nur mit einem großen Reformentwurf schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass der Einzelne für die eigenen Lebensrisiken mehr Eigenvorsorge treffen kann. Genau das aber ist Kernelement eines neuen Verhältnisses von Bürger und Staat. Rot-Grün hat diesen unauflöslichen Zusammenhang nie verstanden.
  • Wir müssen die Sozialsysteme so umbauen, dass die Gesamtbelastung der Bürger und Unternehmen nicht mehr als 40 Prozent der Lohnkosten ausmacht. Das wird auch bei zusätzlichem Wachstum nicht ohne mehr Eigenvorsorge möglich sein. Niedrigere Steuersätze und größere Beschäftigungschancen werden die Menschen dazu in die Lage versetzen.
  • Dabei steht unser Gesundheitssystem vor den schwerwiegendsten Problemen. Zum einen müssen wir durch mehr Markt dafür Sorge tragen, dass die Dynamik im Gesundheitssektor sich auch in Deutschland besser entfalten kann. Zum anderen müssen wir darauf reagieren, dass in unserer alternden Gesellschaft die medizinischen Kosten ansteigen werden. Die Qualität unserer öffentlichen Gesundheitsversorgung werden wir nur erhalten, wenn der Patient als Beteiligter mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten erhält und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Die Bundesgesundheitsministerin hat von alldem nichts verstanden. Die vor Weihnachten verabschiedeten Strukturgesetze sind rein planwirtschaftlicher Herkunft. Unter diesen Bedingungen mutet es für Ärzte, Pfleger und Patienten geradezu zynisch an, wenn am Tage der Gesetzesverabschiedung ein genau gegensätzliches Papier aus dem Kanzleramt lanciert wird. Hier wird vor allem mediale Imagepflege betrieben und versucht, mit schöner Rhetorik von den realen Taten abzulenken.
  • Die heutigen Regelungen zur Rente sind mittelfristig nicht generationengerecht. Nur eine ehrliche Beschreibung des demografischen Wandels, wie wir es mit einem demografischen Faktor erreichen wollen, vermag den Generationen, die in 15, 20 oder 30 Jahren in den Ruhestand treten, Verlässlichkeit in der Alterssicherung zu geben. Die heutige Rentner-Generation, der ein hohes Maß an Sicherheit garantiert ist, muss Verständnis dafür aufbringen, dass die jüngere Generation Anspruch auf ein ebensolches Maß an Verlässlichkeit hat. Ich bin überzeugt, dass diese Einsicht bei den Älteren bei einer ehrlichen, berechenbaren Politik in hohem Maße vorhanden wäre. Uns allen sollte klar sein: Die anstehende Rentenreform muss dauerhaft tragfähig sein, oder die Versicherten werden unserem Rentensystem das existenznotwendige Vertrauen entziehen.
  • Zu den Prioritäten dieser Legislaturperiode gehört eine neue Familiengerechtigkeit beim Umbau von Steuern und sozialen Sicherungssystemen. Denn es zählt zu den größten Ungerechtigkeiten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass sich die materielle Situation von Familien mit Kindern im Vergleich zu Alleinlebenden immer weiter verschlechtert hat. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Das Familiengeld kann dabei nur ein Baustein sein. Die Erziehungsaufgabe von Kindern bleibt nach unserem Verständnis ureigenste Aufgabe der Eltern. Die öffentliche Infrastruktur für Familien muss allerdings deutlich verbessert werden.
  • Die Senkung der Staatsquote auf 40 Prozent ist ein ehrgeiziges und sicherlich nur in einem Jahrzehnt erreichbares Ziel. Sie bleibt aber die einzige Möglichkeit, individueller Dynamik in Deutschland wieder eine Heimat zu geben. Der Staat muss sich aus den Aufgaben zurückziehen, die der Einzelne oder private Anbieter ebenso oder besser leisten kann. Ehrgeiz und Fleiß - zwei Eigenschaften, die nach der letzten Shell-Studie besonders bei jungen Leuten hoch im Kurs stehen - können nur in einem Gemeinwesen zur Geltung kommen, das die Eigeninitiative nicht erstickt, sondern die schöpferischen Kräfte fördert und damit den Wert der Freiheit achtet. Letztlich bedeutet die Höhe der Staatsquote ein Maß dafür, inwieweit wir dem einzelnen Menschen zutrauen, etwas für sich und andere zu leisten. Es ist deshalb blanker Unsinn, eine Senkung der Staatsquote als Entsolidarisierung der Gesellschaft zu verleumden. Im Gegenteil: Nur so werden Wachstum und Solidarität dauerhaft gesichert werden können.
3. Zukunftsfähig wird unsere Gesellschaft nur, wenn wir die
Bedeutung von Bildung und Forschung erheblich vergrößern. Dies muss
auch für die Arbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gelten, unabhängig
aller Zuständigkeitsdebatten im Lande. Wir dürfen es der
Bundesregierung nicht durchgehen lassen, dass erstens PISA, also das
Problem der Qualität, zweitens die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf, also die Frage der Kinderbetreuung, und drittens
sozialdemokratische Traditionsdogmen, also der Kampf gegen das
gegliederte Schulwesen, vermengt werden, um unter den Stichworten
"Bundesschulgesetz" und "Ganztagsschule" de facto die
GEW-Gesamtschule als flächendeckende Antwort auf alle Probleme
anzubieten. Gemeinsame Bildungsstandards für alle Kinder und
Jugendlichen in Deutschland, wie sie jetzt endlich von den
Unionskultusministern durchgesetzt werden konnten, aber
unterschiedliche Wege ihrer Realisierung - das bleibt unser Credo.
Die Erfahrungen der unionsgeführten Länder zeigen, dass wir auf dem
richtigen Weg sind.
Offensiver müssen wir für die Veränderung unseres Hochschulsystems
eintreten. Hochschulen müssen wieder Orte der Identifikation von
Studenten mit ihren Lehrern werden. Da hilft kein Verbot von
Studiengebühren, sondern hier brauchen wir mehr Möglichkeiten des
Wettbewerbs: Abschaffung der ZVS, Auswahl der Studenten durch die
Universitäten, Wissenschaftstarife mit mehr Flexibilität, als sie der
öffentliche Dienst erlaubt. Wenn dabei intelligente Stipendien- und
Gebührensysteme die Kraft der Hochschulen stärken, müssen sie möglich
werden. Ebenso wird es unsere Aufgabe sein, Strukturen für das
lebenslange Lernen zu entwickeln, denn nur so können wir in einer
alternden Gesellschaft die notwendige Dynamik für Innovationen in
unserem Lande erhalten.
4. Innovationen setzen eine verlässliche Politik des Staates für
Investitionen in Wissenschaft und Forschung voraus. Es ist geradezu
fahrlässig, wie wenig Verlässlichkeit für zukunftsfähige
Forschungsbereiche Rot-Grün vermittelt. Der Erfolg des Transrapid in
China verdeckt, dass die Bundesregierung seine technologische
Erprobung und Umsetzung in Deutschland grob vernachlässigt und damit
ein Paradebeispiel deutscher Zukunftstechnologie mutwillig gefährdet
hat.
Aber auch in unseren eigenen Reihen verdienen Forschung und
wissenschaftliche Innovationen ein verstärktes Augenmerk. Mit welchen
Technologien wollen wir in Deutschland in Zukunft unser Geld
verdienen? Unsere Stärken im Automobil- und Maschinenbau und in der
chemischen Industrie müssen wir pflegen und dürfen sie nicht als
selbstverständlich ansehen. Geradezu abenteuerlich erscheint mir der
Umgang mit der pharmazeutischen Industrie und der grünen
Gentechnologie. Eine moderne Gesellschaft, die ihren Wohlstand
erhalten und mehren will, darf die Kenntnisse über wissenschaftliche
Entwicklungen nicht einem kleinen Kreis von Fachleuten überlassen,
sondern muss die Debatte in die Mitte der Gesellschaft tragen. Dafür
ist der Bundestag der richtige Ort.
So wie wir uns richtigerweise mit den ethischen Grenzen der
Gentechnologie beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden - ein
internationales Verbot nicht nur des reproduktiven Klonens von
Menschen, sondern auch des therapeutischen Klonens duldet keinen
Aufschub - so muss die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugleich auch
wieder sichtbarer ein Ort der Förderung von Wissenschaft und
Technologie werden. Ein Land, das zuerst immer die Risiken debattiert
und dabei Chancen verpasst, wird am weltweiten Wachstum nicht
teilhaben.
All die genannten Punkte dienen der Weiterentwicklung der Sozialen
Marktwirtschaft, dem Erfolgsmodell der Bundesrepublik Deutschland,
unter veränderten Bedingungen. Sie werden nach meiner festen
Überzeugung nur gelingen, wenn wir der Freiheit des Einzelnen wieder
einen breiteren Raum geben und staatliche Allmachtsvorstellungen
zurückdrängen. Dies muss der ordnungspolitische Leitfaden unseres
Handelns sein. Allerdings: So wie im wirtschaftlichen und sozialen
Bereich, die Rolle des Staates zurückgenommen wird, wird dem Staat an
anderer Stelle, vor allem bei der inneren und äußeren Sicherheit,
eine wachsende Rolle zukommen.
Mit beiden Elementen, Rücknahme hier, Stärkung dort, wollen wir
nicht den schwachen, sondern den starken Staat. Ein Staat, der stark
ist, weil er schlank, schnell, flexibel, effizient und
durchsetzungsfähig ist. Ein Staat, der stark ist, weil seine Bürger
sich selbst stark genug fühlen und ihr Gemeinwesen nicht überfordern
müssen. Leistungsfähig fühlen sich die Bürger, wenn ihnen genügend
Freiräume gelassen werden. Für die Wahrung dieser Freiräume bedarf es
freiheitssichernder Institutionen. Jede Regierung tut gut daran, die
zentralen Institutionen unseres Gemeinwesens, Parlamente, Gerichte,
Kommunen, die eigenen Staatsdiener, aber auch Ehe und Familie zu
achten und zu schützen, will sie nicht an dem Ast sägen, auf dem sie
selber sitzt. Für die Bereitschaft des Bürgers zu verantwortlicher
Ausübung seiner Freiheit bedarf es zudem der ganz handfesten
physischen Sicherheit. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.
5. Wir alle spüren, dass die Erosion gesellschaftlicher Normen,
Werte und Bindungen in Problemregionen zu mehr Kriminalität und
Verwahrlosung führen. Offene Grenzen und moderne Technologien bringen
neue und gefährlichere Formen von Rechtsbruch und Unsicherheit.
Sollten die Bürger den Eindruck erhalten, der Staat könne ihre
Sicherheit nicht mehr ausreichend schützen, wäre schnell einer der
Legitimitätspfeiler bedroht, auf denen der Staat und sein
Gewaltmonopol aufbauen. Ob es um Identitätsfeststellung, Überwachung
von kriminellen Strukturen mit modernen Technologien, den Austausch
von sicherheitsrelevanten Daten oder die politische Rückendeckung für
die Polizei geht: Nirgendwo in Deutschland wird zu viel für die
innere Sicherheit getan, aber an vielen Stellen wegen veralteter
Dogmen und falsch verstandener Toleranz zu wenig. Die Dimension und
Qualität gerade der terroristischen Bedrohungen muss die Union zu
neuen Überlegungen hinsichtlich schlagkräftiger Sicherheitsstrukturen
und einem seriösen, tabufreien Zivil- und Katastrophenschutz
veranlassen.
6. Schwer gesündigt worden ist in den letzten Jahren bei der
äußeren Sicherheit Deutschlands, die sich zudem immer schwerer von
unserer Sicherheit im Inneren trennen lässt. Das hat uns der 11.
September 2001 bitter gelehrt. Die unglaubliche Diskrepanz zwischen
Worten und Taten der rot-grünen Bundesregierung in der
Verteidigungspolitik und der Isolationskurs in der Irak-Frage stellen
alle politisch verantwortlichen Kräften in den kommenden Jahren vor
drei zentrale, drängende Fragen:
  • Wie kann Deutschland endlich die einsatzfähigen militärischen Einheiten bereitstellen, ohne die die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht funktionieren wird? Wie können wir technologisch überhaupt noch halbwegs modern und bündnisfähig bleiben? An der Erkenntnis, dass es dazu dauerhaft mehr finanzielle Mittel braucht, führt kein Weg vorbei. Die Union ist die einzige Partei, die diese nicht gerade populäre Wahrheit anzuerkennen wagt.
  • Wie können wir unter neuen Bedrohungslagen und veränderten Bundeswehrstrukturen die Beteiligung der Bürger an der Wahrung der Sicherheit ihres eigenen Landes nicht nur finanziell, sondern auch persönlich erhalten? Eines muss uns klar sein: Wer die Bundeswehr aus der Mitte unserer Gesellschaft verschwinden lässt, der wird am Ende die Bundeswehr selbst verschwinden sehen. Und von manchem ist das auch beabsichtigt. Die Union wird bei allen notwendigen Reformen darauf achten, dass Deutschland eine im Volk verankerte Armee behält.
  • Die drängendste Frage aber lautet, wie die Staatsführung dieses Landes wieder das Vertrauen bei unseren Partnern und Verbündeten gewinnen und damit in Zukunft wieder mit ruhigem Gewissen den eigenen Bürgern garantieren kann: Sollte es einmal wirklich ernst werden, dann steht dieses Land nicht einsam und verlassen gegen die Gefahren der Welt. Für die Union gibt es deswegen kein Wanken bei der Unterstützung aller völkerrechtlich akzeptablen Maßnahmen gegen die große Bedrohung, die von Saddam Hussein und seinen Massenvernichtungswaffen ausgeht.
7. Eine der vornehmsten Aufgaben eines staatlichen Gemeinwesens
ist es, Zuwanderung und Integration zu regeln und zu steuern. Es ist
mehr denn je Aufgabe des Staates, klarer festzulegen, wer unter
welchen Bedingungen in Zukunft mit Rechten und Pflichten dauerhaft
zum Gemeinwesen hinzukommt, und strikter für die Einhaltung dieser
Bedingungen zu sorgen. Wer Zuwanderung und das Zusammentreffen von
Zugewanderten und Einheimischen de facto einfach geschehen lässt, der
handelt nicht liberal, sondern gefährdet Toleranz und Integration und
damit letztlich den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Union weiß
sich in ihren Positionen mit der großen Mehrheit der Menschen in
Deutschland einig und wird deswegen ungeachtet alles veröffentlichten
Meinungsdrucks keiner Regelung zustimmen, die von den Menschen wegen
der irreversiblen Folgen nicht aufrichtig akzeptiert würde. Wir
nehmen für uns in Anspruch, nüchterner, weitsichtiger und
verantwortungsbewusster zu handeln, als dies vielen anderen aus
Einzelinteressen oder ideologischen Antrieben heraus gelingt.
8. Wenn wir die Aufgaben des Staates einer Inventur unterziehen,
dann gilt dies nicht nur für den Nationalstaat, sondern ebenso sehr
für die Europäische Union. CDU und CSU treten mit Überzeugung für die
politische Union Europas ein, weil sie sowohl historischer Auftrag
wie zukunftsgerichtete Notwendigkeit ist. Ohne sie werden die Länder
Europas auf Dauer weder ihren Wohlstand noch ihre Sicherheit erhalten
können. Jede Union ist aber nur so stark wie ihr schwächstes Glied
und darauf angewiesen, dass die gemeinsamen Interessen und
Überzeugungen ihrer Völker eine breite, feste Basis bilden. Wer auf
dem historischen, kulturellen und geographischen Auge nicht blind
sein will, der darf zwar für die Grenzen Europas keine
deterministische Antwort geben, aber wird aus heutiger Sicht tiefste
Skepsis hinsichtlich eines Beitritts der Türkei zur EU haben. Deshalb
halten wir die Entscheidung, der Türkei den Kandidaten-Status
einzuräumen, für falsch.
Der Prozess der Vertiefung wird auch nach dem Abschluss der
Arbeiten des Verfassungskonvents die zentrale Herausforderung der
Europäischen Union sein. Die Vertiefung muss gelingen. Sollte
Stillstand drohen, darf der Weg auch über zeitweise verschiedene
Entwicklungsgeschwindigkeiten nicht verbaut werden.
9. Die Menschen erfahren täglich in ihrem Leben, in welchem Maße
ihr Wohlergehen von globalen Entwicklungen abhängt. Ob Arbeitswelt,
Informationsaustausch, Bioethik oder Umweltschutz, es bedarf
internationaler Regeln und Institutionen, um die Auswirkungen der
Globalisierung überschaubarer, berechenbarer und nutzbringender zu
gestalten. Ölpest, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
geklonter Mensch - sie halten uns in diesen Tagen eindringlich vor
Augen, dass auf den Staat wesentliche Aufgaben auch über Kontinente
und Ozeane hinweg zukommen. Dabei geht es nicht um die Utopie einer
umfassenden Weltstaatsmacht, die wohl entweder ohnmächtig oder
diktatorisch wäre. Es geht um geordneten Wettbewerb, Kooperation zum
gegenseitigen Nutzen, Verlässlichkeit des staatlichen Handelns und
wirksame Sanktionen gegen Förderer von Terror und Aggression.
Auf die Union kommt die Aufgabe zu, wenn es um Arbeit und Wachstum
geht, die Globalisierung den Menschen in Deutschland nicht als
unabänderliches Schicksal, sondern als Chance darzustellen; wenn es
um Terrorismus und Krieg geht, die Globalisierung nicht als fernab
und an Deutschland uninteressiert erscheinen zu lassen; wenn Kapital
und Know-How an andere Standorte wechseln, sie nicht als
rücksichtslos und kaltherzig, sondern als Ansporn zu verstehen. In
all diesem versagt die Bundesregierung.
Im vor uns liegenden Jahr wird die strukturelle und gedankliche
Unordnung, in die die Staatswirklichkeit in Deutschland geraten ist,
sichtbar wie selten zuvor werden. Weiter ansteigende
Arbeitslosigkeit, andauernde Krise aller öffentlichen Haushalte,
Attentismus vieler Bürger und Unternehmen, Staatshörigkeit und
zugleich Vertrauensschwund in die Gestaltungskraft der Politik rufen
zu einer großen programmatischen Kraftanstrengung auf. In unseren
Grundsatzentscheidungen für mehr Freiheit, Wettbewerb und
Subsidiarität sind wir uns einig. Die Regierungskoalition hingegen
ist belastet mit unausgestandenen Richtungskonflikten. Dies schwächt
Deutschland.
Es wird die CDU/CSU-Fraktion sein, die dafür Sorge trägt, dass
alle politischen Kräfte dieses Landes im Deutschen Bundestag konkret
Rede und Antwort zu den großen Fragen unserer Zeit stehen müssen.
Dies gilt nicht zuletzt uns selbst. Ich bitte dazu jede Abgeordnete
und jeden Abgeordneten, nach seinen besten Kräften mitzuarbeiten.
Jeder bringt Wissen und Können mit, die der Fraktion wertvolle
Dienste leisten. Der politische Fahrplan für das Jahr 2003 wird in
den kommenden Wochen festgelegt. Zentrale Weichenstellungen werden
auf der Klausurtagung des Fraktionsvorstandes Anfang Februar
erfolgen. Wir haben alle Chancen, als kraftvollste und innovativste
politische Kraft in Deutschland das Jahr 2003 zu bestreiten.
Mit den besten Wünschen für einen guten Start ins neue Jahr und in
der Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen grüße ich sehr herzlich.
Ihre
   Dr. Angela Merkel

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