Berliner Morgenpost: Kommentar - Grüne Wähler sind weiter als grüne Politiker
Berlin (ots)
In Schleswig-Holstein platzt Schwarz-Rot - und in der politischen Farbenlehre wird es plötzlich wieder interessant. Denn wenn Schwarz-Grün im Wunschbild der Bundesbürger nur noch sechs Prozent hinter Schwarz-Gelb liegt, und wenn jeweils über 40 Prozent der Befragten beide Koalitions-Möglichkeiten als eine gute Aussicht empfinden - dann ist das Gedankenspiel zu einer Bundesregierung aus Union und Grünen keine politische Notlösung mehr. Die Frage, die das Institut Emnid für das Berliner Magazin "Cicero" stellte, bezog sich zwar ausschließlich auf die Alternative Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb. Nach Rot-Grün oder anderen Möglichkeiten wurde nicht gefragt. Trotzdem legen die Antwort-Zahlen nahe, dass Schwarz-Grün auch auf Bundesebene eine bewusst angestrebte, gezielt geförderte Option werden könnte. Denn der Umfrage gemäß möchten Anhänger der Grünen zu sagenhaften 87 Prozent lieber mit Angela Merkel im Kabinett sitzen, als gegen eine Regierung Merkel/Westerwelle Opposition machen zu müssen. Wenn es bei ihnen tatsächlich schwere Bedenken gegen Merkel gegeben hätte, wären die Zahlen etwas anders ausgefallen. Deshalb ist die aktuelle Stimmungsmeldung eine interessante Ansage. Mit der Umfrage schlägt die grüne Wählerschaft der grünen Bundesspitze ein bislang gern gebrauchtes Argument aus der Hand: Die Behauptung, man würde ja notfalls mit der CDU/CSU regieren, aber die grüne Basis lehne leider ein Zusammengehen mit der Union auf Bundesebene ab. Eine solche Ablehnung, so scheint es nun in Wahrheit zu sein, beschränkt sich auf Parteitagsdelegierte mit linksradikaler Vergangenheit. Die grüne Basis jenseits von Parteigremien sieht in Angela Merkel offenbar keinen Notfall, sondern immer mehr einen Normalfall. Diese Wähler haben sich instinktiv zur Mitte bewegt, seitdem Angela Merkel begonnen hat, die CDU zu ihnen, das heißt nach links zu öffnen. Die beiderseitige tastende Annäherung in Richtung linke Mitte wiederum spüren öko-konservative Wähler und betrachten nun die Grünen mit neuem Interesse. Noch ist das eine Stimmungskoalition. Der Wunsch, es lieber mit der Union zu versuchen als gegen sie zu opponieren, entspringt vielleicht auch einer Träumerei. Das wäre die Träumerei davon, dass Union den Grünen nicht die Zustimmung zu einem drastischen Sparprogramm abverlangen würde, so wie es Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der "Agenda 2010" getan hatte. Ohne eine solche Träumerei allerdings könnte Schwarz-Grün eines Tages die neue große Gesellschaftskoalition werden, die das Kabinett aus Union und SPD nicht hat sein können. Dafür ist es 2009 noch zu früh. Die Union muss vorher noch gründlich über die Kernkraft nachdenken, die Grünen müssen es genauso gründlich zur freien Schulwahl oder zur Bundeswehr tun, bevor man sich belastbar einig werden kann. Die Emnid-Umfrage für "Cicero" zeigt aber, dass diese Themen ins Zentrum der Debatte rücken. Sie sind der Schlüssel für eine Mehrheit nicht rechts oder links der SPD, sondern jenseits des 20. Jahrhunderts.
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